Der Turm der Könige
sich an der Stirnseite der Kirche, denn sie war an der Stelle der alten gotischen Apsis erbaut worden. Es war ein quadratischer Raum, abgeschlossen von einem halbrunden Altar und überwölbt von einer Kuppel, unter der jene historischen Persönlichkeiten ruhten, die die Geschichte hierhergeführt hatte. An prominenter Stelle befand sich der Schrein mit den sterblichen Überresten König Ferdinands III . Der heilige Ferdinand. Ein heiliger König. Ein weißer König.
Am ersten Tag knieten sich León und Bruder Dámaso in der Mitte der Capilla Real auf den Fußboden und breiteten die Baupläne der Kirche auf den Marmorfliesen aus, um nach einem Anhaltspunkt zu suchen. Nachdem sie die Pläne hin und her gewendet hatten, gelangten sie schließlich zu dem Schluss, dass sie so nicht weiterkamen.
»Ich glaube, wir sollten mit dem Grab des Königs beginnen«, sagte León überzeugt. »Es gibt in der ganzen Kirche keinen Ort, der deutlicher auf das Schachspiel hinweisen könnte.«
»Ich weiß nicht, ob du dir darüber im Klaren bist, León, dass wir damit Grabschändung begehen«, entgegnete Bruder Dámaso.
»Es ist für eine gute Sache«, befand dieser und ging ohne zu zögern zu dem Sarkophag.
Dann begann er, den Schrein abzutasten. Er umrundete ihn und legte das Ohr an die Längsseiten, klopfte sanft mit den Knöcheln dagegen, betastete die Gesichter der rundlichen Putten aus Silber, die mit der einen Hand die Wappen von Kastilien und León hielten und mit der anderen ein florales Flechtwerk beiseiteschoben. León rüttelte an der Krone, dem Schwert und dem Zepter, den Attributen des Monarchen. Er drückte auf das zentrale Detail des Sarkophags, ein Medaillon, auf dem die Kapitulation von Sevilla zu sehen war.
»Dieser Sarkophag«, erklärte ihm unterdessen Bruder Dámaso, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »wird als
das
Meisterwerk der barocken sevillanischen Goldschmiedekunst angesehen. Seine einzelnen Teile bestehen aus Silber und vergoldeter Bronze, die auf einem Sockel aus rotem Jaspis ruhen. Es ist ein ungewöhnlicher Sarkophag. Man kann ihn öffnen, um sein Inneres zu präsentieren, denn der Leichnam ist durch einen zweiten Sarkophag aus Glas geschützt. Meistens ist der Schrein geschlossen, aber auf Weisung Philipps II . wird er an einigen Tagen im Jahr geöffnet, damit die Gläubigen den unversehrten Körper Ferdinands des Heiligen sehen können, und zwar an seinem Namenstag, und … Gott steh uns bei!«, rief er auf einmal.
León hatte irgendeinen Mechanismus berührt, denn plötzlich klappte die Seitenwand des Sarkophags zur Seite und gab den Blick auf den König frei, in Spitze und Stickereien gehüllt, die goldene Krone auf dem Kopf, das Zepter in den Händen. Das Flackern der Kerzen verursachte ein seltsames Spiel von Licht und Schatten auf dem Antlitz des toten Herrschers, und für einen kurzen Moment glaubte León, er sähe ihnen mit verdrießlicher Miene direkt in die Augen.
»Gütiger Himmel«, stöhnte Bruder Dámaso und fuhr sich an die Brust.
»Es ist hier … in der Kathedrale. Ich weiß es. Ich fühle es«, murmelte León. »Alle Zeichen deuten darauf hin. Der König befindet sich an der Stirnseite des Gebäudes, in unmittelbarer Nähe zum Gnadenbild der
Virgen de los Reyes
, der königlichen Madonna. Wie bei der Eröffnung einer Schachpartie.«
»Es geht die Legende, dass diese Madonna dem König im Traum erschien, als er nach Sevilla zog. Sie versprach ihm ihren Beistand bei der Eroberung der Stadt. Als sich das Versprechen erfüllte, beauftragte Ferdinand die besten Bildhauer damit, eine Statue der Madonna zu schaffen, von der er geträumt hatte. Doch niemand war in der Lage, die jungfräuliche Schönheit wiederzugeben, die der König in seinem Traum erblickt hatte. Eines Tages wurden zwei durchreisende Bildhauer bei ihm vorstellig. Sie sagten, sie kämen aus Deutschland und Frankreich und wollten nun die spanische Bildhauerkunst studieren. Da ihnen der König entgegenkam und sie freundlich aufnahm, erboten sie sich, eine Statue für seine Kapelle zu schaffen. Sie schlossen sich in einem Raum des Alcázar ein. Von draußen waren keinerlei Geräusche zu vernehmen, die auf ihre Arbeit hingewiesen hätten. Nur Gebete hörte man sie murmeln, tagein, tagaus. Irgendwann konnte der König seine Neugier nicht mehr bezähmen und öffnete die Tür. Ein unbeschreiblicher Glanz blendete ihn. In der Mitte des Raumes stand die
Virgen de los Reyes
– die Jungfrau der Könige.«
»Eine
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