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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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wenn diese Verwandtschaft bedeutete, dass der kleine Abel ständig in die Nähe des Mädchens kam. Wenn die Kinder die Köpfe zusammensteckten, hatte Cristóbal den ganzen Tag ein schlechtes Gefühl, und wenn er nach Hause kam, rubbelte er das Gesicht der Kleinen mit einem feuchten Tuch ab, um jede Spur des Piratensohnes abzuwischen. Das einzig Gute daran, dass seine Tochter Doña Julias Patenkind wurde, war, dass man sie auf den Namen Julita taufte, ganz so, als wäre sie ihrer beider Kind. Und so betrachtete er sie auch seitdem.
    ***
    LEÓN GENOSS DIE GESELLSCHAFT seines Sohnes. Der Junge hatte die Angewohnheit, ihn bei seinem arabischen Namen Asad zu rufen, auch wenn alle glaubten, der Kleine könne lediglich das Wort »Vater« nicht richtig aussprechen. Zwischen ihnen war eine innige Beziehung entstanden. Mit einem einzigen Blick konnten sie lange Dialoge führen, und eine einfache Geste genügte ihnen, um sich zu verstehen. Sein Vater war dafür zuständig, ihn abends ins Bett zu bringen. Dann erzählte er ihm die Geschichte von den zwei indischen Brüdern, die beide auf den Thron hofften und sich in einem grausamen Bürgerkrieg zerfleischten. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, beschloss der Rat der Weisen, die Auseinandersetzung auf einem Brett aus Teakholz nachzustellen, so dass es Spielfiguren und keine echten Menschen waren, die sich im Kampf maßen.
    »Und so entstand das Schachspiel, um noch mehr Tote zu vermeiden«, erzählte León seinem Sohn. »Große historische Persönlichkeiten begeisterten sich für dieses Spiel. Der Humanist Erasmus von Rotterdam zum Beispiel, der große Freude daran hatte, aber stets ein mittelmäßiger Spieler blieb, weil er dazu neigte, zwischen den einzelnen Zügen zu philosophieren«, erklärte León, und Abel lachte. »Auch Johann von Österreich mochte das Spiel … Selbst Iwan der Schreckliche bat seinen Günstling, mit ihm zu spielen, als er schon sehr schwer an der Gicht erkrankt war. Als er die Figuren aufstellen wollte, ging ein Zittern durch seine Hände, sein Blick brach, und er sank tot über dem Brett zusammen.«
    »Schachmatt«, sagte der Junge.
    »Nun ja, nicht ganz, denn sie hatten ja noch nicht mit dem Spiel begonnen. Aber ganz falsch liegst du nicht. Schachmatt kommt von dem arabischen Begriff
shah-mat
, was so viel bedeutet wie ›der König ist besiegt‹.«
    Und so entdeckte Abel auf den Quadraten dieses Spiels eine ganze Welt für sich, eine Welt in Schwarz-Weiß, bei dem jedes der Felder Ruhm oder Verdammnis, Leben oder Tod bedeuten konnte. Die Entscheidungen, die man beim Schachspiel traf, zogen stets weitere Folgen nach sich, und man musste bereit sein, sie zu akzeptieren, genau wie im wirklichen Leben. Vater und Sohn saßen sich stundenlang schweigend gegenüber, völlig gefangen von diesen geheimnisvollen Figuren, die nur für sie eine ganz besondere Bedeutung hatten.
    Die Leute gaben den exzentrischen Eltern die Schuld daran, dass der Junge so schweigsam und so verschlossen war. Aber in Wirklichkeit war es so, dass Abel mit den meisten Menschen nichts anfangen konnte. Er fand sie uninteressant und hielt es deshalb für sinnlos, sich mit ihnen abzugeben. Nur wenige waren dazu auserkoren, ein Teil seiner Welt zu sein.
    Mamita Lula, die Angst hatte, dass er ein sonderbarer Einzelgänger wurde, drängte Cristóbal dazu, seine Kinder in die Druckerei mitzubringen. Der Kleine, der Cristo genannt wurde, um ihn von seinem Vater zu unterscheiden, hatte dessen verschlossene Art geerbt und übernahm auch seinen Hass auf Abel. Mit den Jahren begann er, Ausreden vorzubringen, um nicht mit in die Druckerei zu müssen, und fand bald andere Freunde.
    Julita hingegen war anders. Sie hatte feines, weiches, leicht gewelltes Haar und große, karamellfarbene Augen, die immer ein wenig feucht zu sein schienen. Sie war sanftmütig und zutraulich, unfähig zu boshaften Streichen. Wenn Abel sie kommen sah, packte er sie an der Hand, um sie zum Zimmer von Großvater Nepomuceno zu schleifen, der inzwischen nicht mehr wusste, dass er einmal einer der angesehensten Apotheker der Stadt gewesen war.
    Nach dem Tod seiner Frau hatte Julias Vater sich in seine eigene Welt zurückgezogen, bis er vollständig vergessen hatte, dass er eine Familie besaß und dieser Junge mit seinen tiefgrünen Augen, der ihn bewundernd ansah, sein Enkel war. Der Großvater verbrachte die Tage zwischen seinen Reagenzgläsern, wo er Schwefel und Wasserstoff mischte und Bücher mit Geheimformeln

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