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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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medizinischer Rezepte und Kabbalasprüchen studierte. Er entwendete zuweilen Kochtöpfe, um in ihnen seine Pülverchen und ätzenden Flüssigkeiten anzurühren, und erhitzte sie auf einem Brenner, den er selbst zusammengebastelt hatte. Er ließ sie köcheln, bis es nach faulen Eiern zu riechen begann oder sich der Boden des Topfes verbeulte.
    »Dieser Mann ist eine Gefahr für alle«, sagten die Dienstmädchen unter sich. »Irgendwann steckt er das Haus in Brand.«
    Der alte Mann freute sich, wenn er Abel und Julita in sein Zimmer kommen sah.
    »Kommt her und schaut euch den Himmel an!«, drängte er sie. »Ich glaube, da spazieren Menschen über den Mond.«
    Und er ließ sie durch das seltsame Rohr, das unter der Dachluke stand, die Sterne betrachten.
    Manchmal gingen die Kinder alleine auf den Dachboden. Er besaß damals schon den magischen Zauber, den er auch mit den Jahren nicht verlieren sollte. Dort stöberten sie in den Festtagsgewändern, die Don Diego López de Haro als Ritter der »Vierundzwanzig« getragen hatte, zwischen abgestellten Möbeln und wackligen Stühlen, die nach dem Erdbeben übrig geblieben waren. Sie entrollten die Karten, die León dort aufbewahrte und auf denen ferne Länder zu sehen waren, die nicht einmal in Abraham Ortelius’
Theatrum Orbis Terrarum
erschienen, und betrachteten die Schachzeichnungen mit ihren Figuren, Spielzügen und Annotationen, die Abel erst viele Jahre später begreifen sollte.
    Die Kinder öffneten die Packen mit den gehefteten Flugschriften, die nicht verkauft worden waren, und Abel brachte dem Mädchen damit das Lesen bei. So erfuhren sie vom Schicksal der Märtyrer in Japan, die durch die Hand grausamer Ungläubiger den Tod gefunden hatten, von den größten Mysterien des Christentums, zu denen die heilige Dreifaltigkeit zählte, von der Schwere der Todsünde und den ewigen Qualen der armen Seelen im Fegefeuer. Aber dank der Flugschriften erfuhren sie auch von weniger frommen Dingen: von schrecklichen Verbrechen, begangen von den blutrünstigsten Banditen der Gegend, und von gewissenlosen Schürzenjägern, die Schande über ehrbare Mädchen brachten.
    Der Dachboden war ihr kindliches Paradies, der Ort, an dem sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen, an fremden Orten und in anderen Welten leben konnten, während sie dem Getrappel der Mäuse lauschten.
    Niemand wusste, dass Abel und Julita in zwei Welten lebten: der langweiligen Welt im Erdgeschoss, wo sie sich zwischen Druckmaschinen bewegten und widerspruchslos den Anweisungen der Erwachsenen folgten, und der Wunderwelt dort oben. In den Augen der Erwachsenen waren sie zwei stille, in sich gekehrte Kinder, die nur dann außer sich gerieten und brüllten, wenn sie getrennt werden sollten.
    ***
    IRGENDWANN BEGANN JULIA, sich um die Erziehung ihres Sohnes zu kümmern. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Abel der Mensch war, der einmal die Druckerei erben und ihr Lebenswerk fortführen würde. Wenn sie irgendwann starb, würde durch Abel ein kleiner Teil von ihr weiterleben. Deshalb begann sie, sich Sorgen zu machen, der Junge könne den Anforderungen nicht gewachsen sein.
    »Er braucht Bildung«, sagte sie zu ihrem Mann.
    »Er ist gebildet. Er ist sehr klug und kennt die Buchstaben genau. Ich glaube, kein Kind in seinem Alter liest und schreibt so flüssig wie Abel«, antwortete León.
    Er kannte seinen Sohn gut und wusste, dass sein freiheitsliebender Geist nicht für die Schule geschaffen war. Der feinsinnige Abel würde sich den strengen Regeln dort nicht anpassen können. Aber das Schlimmste war, dass es León im Grunde seines Herzens einen Stich versetzte, Abel so viele Stunden fern von sich zu wissen.
    »Es ist nicht nötig, dass er zur Schule geht«, fand er.
    Daraufhin ließ Julia den Jungen rufen. Dieser kam mit verhaltenem Schritt zu ihr und blickte sie erwartungsvoll aus seinen grünen Augen an. Seine Mutter legte eine Feder, ein Tintenfass und einen weißes Blatt Papier auf den Tisch, zog einen Stuhl heran, legte ein Kissen darauf, hob ihren Sohn hoch und setzte ihn hin.
    »Schreib deinen Namen«, befahl sie ihm mit strenger Stimme und deutete auf das leere Papier.
    Abel betrachtete die Utensilien, die er hin und wieder von weitem gesehen hatte, atmete tief durch, hielt mit der rechten Hand das Papier fest und griff mit der Linken nach der Feder. Er tauchte sie bis zu den Fingerspitzen in das Tintenfass und führte das Schreibgerät zum Papier. Dann kritzelte er etwas hin, das entfernt an die Lettern der

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