Der Turm der Könige
gegenüber dem Holzlager von Segura und dem alten Kalkbruch.
»Es sind doch nur Kinder«, entgegnete der Alte, wenn jemand eine Bemerkung darüber machte.
Er brachte ihnen auch das Tauchen bei. Gegenüber der
Maestranza
– der Stierkampfarena – tauchten sie nach rostigen Kerzenleuchtern, alten Möbelkisten und Uhren ohne Zeiger und Glas. Als die
Maestranza
gebaut wurde, hatten die Arbeiter den Unrat von dem Schuttplatz, der sich vorher dort befunden hatte, in den Fluss geworfen. Turca wartete immer am Ufer auf sie und rannte aufgeregt auf und ab. Aufmerksam verfolgte sie die Luftbläschen, die ihr zeigten, wo die Kinder gerade waren, und bellte ängstlich, damit sie wieder an die Oberfläche kamen.
Manchmal vertraute Julita Abel ihre Geheimnisse an. Sie erzählte ihm, dass ihr nachts die Jungfrau der guten Hoffnung von Triana erscheine, die ja schließlich die Schutzpatronin der Seeleute war, und sie auffordere, für die Ertrunkenen zu beten.
»Das ist nicht wahr!«, entgegnete der Junge. »Die Jungfrau erscheint einem nicht einfach so.«
Aber Julita gab ihm ihr Ehrenwort.
»Sie hat große schwarze Augen und hat mein Haar gestreichelt«, beteuerte sie.
Am späten Nachmittag gingen die Kinder zurück zur Druckerei. Hand in Hand liefen sie ins Haus und in die Küche, wo Mamita Lula ihnen ein Brot mit Quittengelee machte. Ausgehungert vom stundenlangen Schwimmen im Wasser, rissen sie es ihr aus der Hand und liefen nach oben zu Großvater Nepomuceno. Damals war er schon ein verwirrter, tatteriger Greis, der mit zahnlosem Mund stumm vor sich hin kaute. In lichten Momenten erzählte er ihnen von den Jahren, als er im Spital gearbeitet und schreckliche Krankheiten behandelt hatte, von denen die Leute spindeldürr und gelb im Gesicht geworden waren. Andere Male wiederum wusste er nicht einmal mehr, wer er war. Dann erfand er Geschichten, in denen er es fertigbrachte, einen afrikanischen Hexer und einen Ritter der Tafelrunde am selben Ort und zur selben Zeit auftreten zu lassen, und das so gekonnt, dass man ihm nicht anmerkte, dass er schwindelte.
Eines Tages, als die Kinder wie jeden Nachmittag die Treppe hinauf zum Großvater gingen, um dort ihre Brote zu essen, hörte Turca nicht auf zu jaulen. Der alte Mann saß mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln in seinem Schaukelstuhl. Er sah glücklich aus.
»Großvater!«, rief Abel und schüttelte ihn an der Schulter. »Großvater!«
Aber er wurde nicht wach. Da begriff Julita, was geschehen war; sie fiel auf die Knie und begann zu beten. Sie betete inbrünstig, dass Juan Nepomuceno direkt in den Himmel kam. Viele Jahre später, als Abel schon Männerkleidung trug und Julita keine Zöpfe mehr hatte, kletterten sie immer noch gemeinsam aufs Dach, um durch das Teleskop den Himmel zu betrachten und in den Sternen nach all ihren Lieben Ausschau zu halten, die sie verloren hatten.
***
CRISTÓBAL SAH, WIE DIE FREUNDSCHAFT zwischen Abel und seiner Tochter im Laufe der Jahre immer tiefer wurde, und kochte innerlich. So oft hatte er versucht, auch dem Mädchen den ganzen Hass einzuimpfen, den er für Abel empfand. Cristo hingegen, sein Ältester, der mit zwölf Jahren schon in der Druckerei arbeitete, teilte seine Gefühle. Cristóbal hatte ihn nach und nach damit angesteckt, indem er ihm erzählte, dass Abel der Sohn eines dahergelaufenen Piraten sei und dass man das an seiner Unfähigkeit in allen Bereichen merke. Der Druckermeister hatte sich die Realität zurechtgebogen und gab seinem Sohn das Gefühl, dass er und nicht Abel der rechtmäßige Besitzer der Druckerei war, falls es einen gerechten Gott gab.
Cristo wuchs in der Überzeugung auf, dass man unbedingt so überheblich und stolz wie Doña Julia auftreten musste, um reich zu werden. Er verfluchte sie, weil sie diesen Piraten geheiratet hatte und nicht seinen Vater, denn das Ergebnis dieser Beziehung wäre er gewesen. Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens hatte Cristo keine Erinnerung mehr an seine Mutter. Er hasste Abel, weil der den Platz einnahm, der eigentlich ihm zustand, und ihn zu einem Dasein als Lehrling verdammte.
Eines Nachts träumte er, dass die Druckerei lichterloh brannte und er der Einzige war, der alle retten konnte, während Abel schreckensstarr danebenstand. In dem Moment begriff Doña Julia, dass in Wahrheit er ihr würdiger Nachfolger war. Doch leider war das nur ein Traum, und es vergingen viele Jahre, in denen er sie ebenso bewunderte, wie er sie hasste. Eines Tages musste er
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