Der Turm der Könige
umklammerte das Kreuz um seinen Hals. Und er dachte an den elfenbeinernen Elefanten. Er hatte versprochen, gut auf ihn aufzupassen. Er hatte lange überlegt, wo er ihn verstecken könnte, und war zu dem Schluss gelangt, dass es keinen besseren Platz dafür gab als die Grabkapelle der Familie. Am Tag der Beerdigung, als niemand auf ihn achtete, weil alle mit den Totengebeten des Pfarrers, mit Julias Schluchzen und der stickigen Luft in dem engen Raum beschäftigt waren, ließ der Junge Großvater Nepomucenos Hand los und nahm den elfenbeinernen Elefanten aus der Hosentasche. Als die Menschen hinausströmten und sie alleine zurückblieben, nutzte Abel diesen Moment der Ruhe, um den Elefanten in eine Vase gleiten zu lassen, die in einer Nische neben dem kleinen Altar der Krypta stand. Wenn jemand darauf aufpassen konnte, dann war das sein Vater.
***
DER EINZIGE MENSCH IN SEINEM ALTER, mit dem Abel von nun an zu tun hatte, war Cristóbals Tochter Julita. Das Mädchen hatte einen Hang zur Frömmigkeit, wie ihre Großeltern schon früh bemerkten. Schon als Vierjährige kletterte sie auf das Ehebett, um dem gekreuzigten Christus aus Silber, der über dem Kopfende hing, die Nägel und die Dornenkrone abzunehmen. Nachdem sie die Nägel herausgezogen hatte, ließ sich die Figur leicht von dem Eichenkreuz abnehmen. Das Mädchen nahm sie mit in ihr Zimmer und legte sie zu sich ins Bett, ohne sich daran zu stören, dass sich die spitzen Arme in ihre Brust bohrten.
»Der Ärmste! Das tut ihm doch weh!«, sagte sie unter Tränen, als ihre Großmutter kam, um die Figur zu suchen und sie wieder mit Nägeln und Dornenkrone zu versehen.
»Das Mädchen wird mal Nonne«, sagte der Großvater immer, wenn ihr Vater nicht dabei war. Cristóbal hatte eine Abneigung gegen alles, was irgendwie mit der Kirche zu tun hatte.
Der Druckermeister hatte angefangen, Gott die Schuld an seinem Unglück zu geben, und weigerte sich, zur Messe zu gehen. Er hasste die Kirchen, den Weihrauchgeruch, die Kerzen, die Pfaffen, die Kruzifixe, die Heiligenfiguren und die Glasfenster. Er hatte keine Skrupel, das lauthals kundzutun, während er aufgebracht durchs Haus lief, denn er war sicher, dass Gott ihn hörte und sich für das Unrecht schämte, das er ihm angetan hatte.
»So etwas darf man nicht sagen«, warf ihm seine besorgte Schwiegermutter vor. »Die Inquisition hat ihre Ohren überall.«
»Ich sage das nur hier. Wollt ihr mich vielleicht anzeigen?«, gab er zurück.
»Auch wenn es die Inquisitoren nicht hören: Was du da sagst, ist sehr hässlich. Am Tag deines Todes wird man dich im Jenseits dafür zur Rechenschaft ziehen. Letztendlich müssen meine Enkel alles ausbaden.«
Als Julita älter wurde und sie feststellten, dass das Mädchen auf die Welt gekommen war, um die Sünden seines Vaters zu sühnen, beruhigten sich Cristóbals Schwiegereltern wieder. Mit sechs Jahren konnte Julita schon sehr kunstvoll Taschentücher besticken. Sie war so eifrig, dass sie drei am Tag schaffte. Sobald sie fertig waren, ging sie vor das Haus der Großeltern, um nach einem Bettler Ausschau zu halten, dem sie sie schenken konnte. Wenn sie eine Münze bekam, warf sie das Geld in den Opferstock der Kirche. Sie kümmerte sich, wenn eine streunende Katze Junge warf, und brachte die Kleinen dann auf den Dachboden, bis das Dach voller Katzen war.
Wenn jemand verletzt oder erschöpft oder zu alt war, um ohne Hilfe zu gehen, hakte sie ihn unter und brachte ihn zum Spital der Caridad. Begegnete sie einer Hure, die eine aufgeplatzte Lippe hatte, weil man sie geschlagen hatte, begleitete sie sie ins Spital Espíritu Santo. Manchmal kam eine dieser Frauen mit einem Blumenstrauß, um sich für ihre Fürsorge zu bedanken, doch dann sagte Julita, sie möge die Blumen der Muttergottes bringen, die sei wahrhaft barmherzig.
Abel bewunderte das Mädchen, weil es so fest zu seinem Glauben stand, immer auf sich selbst vertraute und wusste, was es aus seinem Leben machen wollte. Das erschien ihm als die größte Gabe, die ein Mensch haben konnte. Nicht anders seine Mutter: Julia bewegte sich so selbstverständlich zwischen Druckerpressen, Setzkästen und Tinte wie kein Mann in der Stadt. Sie verstand sich als Mittlerin von Geschichten und von Wissen, und das war ein Selbstverständnis, das man nicht so leicht ablegte. Die Buchstaben und Wörter hatten sie für immer in ihren Bann gezogen. Für die Druckerei war sie bereit, spät ins Bett zu gehen und im Morgengrauen aufzustehen, mit
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