Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
Vom Netzwerk:
nachmittäglichen Ausflügen mit Julita zum Fluss wurde Abel allmählich erwachsen. Sein Lehrer brachte ihm bei, auf Französisch zu lesen und zu schreiben. Er unterwies ihn darin, wie man sich vor einem Botschafter, einem König oder einer Prinzessin zu verhalten hatte. Er erklärte ihm, wie man die Textur, die Farbe und den Geschmack eines Weins beschrieb, indem man Begriffe wie kühn oder elegant verwendete, und wie man sämtliche Besteckteile geübt handhabte, auch jene, die sonst immer in der Schublade liegen blieben. Den größten Wert jedoch legte Monsieur Verdoux auf den Schachunterricht. Für ihn war es äußerst wichtig, dass ein junger Mann die Feinheiten dieses Spiels beherrschte, da das Schachspiel das vorausschauende Denken, Geduld, Beharrlichkeit und das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist herausbilde. Für ihn war jede Figur ein Teil der Grammatik, ein Bestandteil der Sprache, aus der sich die Wörter, Sätze und Kapitel einer Partie zusammensetzten, bis eine Elegie oder ein wunderbarer Abenteuerroman entstand.
    Monsieur Verdoux behauptete, dass man an den Vergnügungen, für die sich ein Mensch begeistere, erkennen könne, mit wem man es zu tun habe. Wer sein Geld bei Glücksspielen wie dem Würfeln, den Karten oder Wetten verschwende, sei ein schwächlicher Taugenichts, der seine Zukunft lieber in die Hände des Schicksals legte. Für ihn waren Schachspieler die Einzigen, die den Mut besaßen, die Zügel ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen, da sie der Überzeugung seien, dass der Mensch durch Umsicht, Mut und Beharrlichkeit seine eigene Geschichte schreibe, indem er lerne, nicht aufzugeben und auf die Gunst der Stunde zu warten.
    »Wer das Schachspiel liebt, auf den kann man vertrauen«, seufzte er ergriffen. »Doch es ist Vorsicht geboten. Auch bei Schachspielern gibt es Unterschiede«, erklärte er. »Viele geben sich nämlich mit einem Remis zufrieden. Diese Dummköpfe! Ein guter Schachspieler muss sich im Griff haben, die Nerven bewahren, realistisch sein. Er muss über ein gutes Gedächtnis verfügen, Willensstärke, Selbstvertrauen und ein ordentliches Quäntchen Verstand. Ohne das ist er verloren.«
    Er unterteilte die Menschen in tapfere Bauern, rastlose Springer, trutzige Türme, bedächtige Läufer, kriegerische Damen und unverzichtbare Könige. Die beiden verbrachten viele Stunden beim Schachspiel oder studierten die Partie, die auf dem runden Stein dargestellt war, der im Patio des Hauses hing, seit Abel sich erinnern konnte. Manchmal sah Monsieur Verdoux den Stein sichtlich bewegt an.
    »Kein Preis ist zu hoch für den Kopf des gegnerischen Königs«, sagte er leidenschaftlich.
    Doch im Laufe der Jahre begannen sich Abels Interessen zu verändern. Mit Einsetzen des Bartwuchses wurde er zunehmend verschlossener. Er sprach wenig und sah den Leuten nicht in die Augen, doch durch die gerunzelte Stirn bemerkte niemand, dass es Schüchternheit war und nicht Verstocktheit.
    »Ganz die Mutter«, sagten einige.
    Nachdem er überraschend einen Wachstumsschub gemacht hatte, war er plötzlich ein richtiger Mann geworden – mit breiten Schultern, die er von seinem Vater geerbt hatte. Es war ihm unangenehm, von oben auf die Angestellten der Druckerei herabzusehen, und erst recht, ihnen mit seiner neuen, tiefen Stimme Anweisungen zu geben. Sie kam ihm vor wie ein tiefes Grollen, das von ganz unten aus dem Bauch heraus kam, und machte aus jedem Satz, den er sagte, eine ernste Angelegenheit, selbst wenn er dabei lächelte – was nicht oft vorkam in dieser Zeit. Vor allem aber widerstrebte es ihm, mit Cristo zu sprechen, Cristóbal Zapatas Sohn. Der Junge arbeitete seit drei Jahren als Lehrling in der Druckerei und bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit in der Werkstatt, als gehörte der Laden ihm. Obwohl Cristo zwei Jahre jünger war als er und nur ein einfacher Angestellter, war Abel nicht in der Lage, seinem Blick standzuhalten. Er fühlte sich unwohl in seiner Gegenwart, denn Cristo hatte so gar nichts mit seiner Schwester Julita gemeinsam.
    Weil er so sehr mit sich selbst beschäftigt war, bemerkte Cristóbal Zapata gar nicht, dass seine Tochter dabei war, sich in eine schöne Frau zu verwandeln. Unter ihrem Kleid begannen sich weibliche Formen zu entwickeln. Julita hatte langes, braungelocktes Haar, eine Pfirsichhaut, eine zierliche Figur und glänzende, honigbraune Augen mit zarten, bernsteinfarbenen Einsprengseln. Ihr ganzes Wesen war liebenswert: Freundlich und heiter

Weitere Kostenlose Bücher