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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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zuzusprechen. Der Schwager war ein komischer Bursche, steckte in seiner Geistes- und Buchstabenwelt, aber die Menschen schien er wenig zu kennen. Vergrub sich hinter Schreibtisch und Forschungen – und sprach dann über Arbeiter und ihren Sinn für Höheres … Geschwätz, Geschwätz. Richard fühlte sich müde, ging zum Waschbecken in der Ecke hinter dem großen Holzzuber, in dem früher die Wäsche gewaschen worden war. Jetzt wurden Kartoffeln darin aufbewahrt. Er wusch sich das Gesicht, blieb dann über das Waschbecken gebeugt stehen, hörte zu, wie die aus seinem Gesicht fallenden Wassertropfen auf den Emailüberzug des Beckens klackten – blasig, unwirklich im wachsenden Geräusch seines Atems. Er fühlte sich so ausgeleert, daß er nicht begriff, wie je etwas in ihm gewesen sein konnte: seine Kindheit, die Erlebnisse während des Krieges, der Angriff auf Dresden, die Verbrennung, Rieke, die Schlosserlehre, Studium, Anne, die Kinder. Vielleicht trug man ein Gefäß in sich, das sich im Verlauf des Lebens allmählich füllte, doch bei ihm, jetzt, war es leckgeschlagen, und alles war ausgelaufen. Er wusch sich das Gesicht noch einmal. Das Wasser war so kalt, daß Stirn und Schläfen schmerzten; aber nachdem er sich mit dem Taschentuch abgetrocknet hatte, ging es ihm besser. Er sah auf die Werkbank, die noch von Alvarez stammte, das glatte, von unzähligen Handgriffen blankpolierte Holz der Arbeitsplatte. Es war so hart, daß die Würmer es nicht anfraßen. Er kannte die Sorte nicht, es war ein kupfrigrotes, ungewöhnlich festes Holz, dem selbst Feuchtigkeit und Schimmel nichts anhaben konnten. Auf dieser Bank hatte er den Tisch für Meno gefertigt, die Schreibtische für Christian und Robert, den Hundertschubladen-Schrank im Arbeitszimmer, der selbst die Anerkennung von Tischlermeister Rabe gefunden hatte, des wurzelzähen, stumpenrauchenden Kauzes, der »Dilettanten«, wie er sagte, nicht leiden konnte. Aus den beiden Pflaumenbäumen, die in den Stürmen des vorletzten Herbstesgestorben waren, hatte Richard den Schrank geschreinert. Wieviel Freude hatte ihm diese Arbeit gemacht: das Hobeln, Zurechtschneiden, Zargenfügen, und vorher die detaillierte, mühselige, immer wieder Irrtümern aufsitzende Konstruktionsarbeit, für die er Pläne in Museen und im Amt für Denkmalpflege studiert hatte. Wie gern er den Harzduft roch, wie er sich gefreut hatte, als unter dem Hobel die kräftige Maserung des Pflaumenholzes zum Vorschein kam, wie Rabes Blick gewesen war, als er Knochenleim gekauft hatte, der in der Tischlerwerkstatt in einem Wäschetopf auf offenem Feuer blubberte – und wie der Blick sich aufhellte, als Rabe den Schrank zu sehen bekam und prüfte, wie der Zug von Mißtrauen und Verachtung langsam der Anerkennung wich: das würde er nicht vergessen.
    Es klopfte. Anne kam herein. »Was ist mit dir los, Richard?«
    »Gar nichts ist mit mir los«, erwiderte er gereizt.
    »Ich merke doch, daß etwas mit dir ist. Du bist nicht du selbst, läufst herum wie ein kranker Bär, ziehst dich ins Arbeitszimmer zurück, kaum bist du nach Hause gekommen … Du schreist Robert an bei Kleinigkeiten, bist mürrisch …«
    »Schwierigkeiten in der Klinik, nichts weiter! Mein Gott, der übliche Kram. Die haben ja diese Idee mit dem Kollektiv der sozialistischen Arbeit, Müller verlangt Überstunden von den Assistenten, und von uns natürlich auch, die Oberärzte sollen mit leuchtendem Beispiel vorangehen … Und dann diese ewigen Kämpfe in den Rektoratssitzungen, wir würden nicht genügend tun, um die Mitarbeiter im Sinne der Gesellschaft zu beeinflussen, und dann ist Karl-Marx-Jahr, wir sollen irgendeine blödsinnige Initiative mit unseren Studenten ›ergreifen‹ –«
    »Das ist es nicht. Ich kenne dich. Du bist anders, wenn es diese Dinge sind.« Sie trat auf ihn zu. Er stand abgewandt, über die Werkbank gebeugt, schloß die Augen, als sie nach seiner Hand griff.
    »Verschweigst du mir etwas?«

    Sie hatten es sich zur Regel gemacht, ernsthafte Probleme nicht in den eigenen vier Wänden, sondern auf einem Spaziergang zu besprechen. Diese Spaziergänge waren ein im Viertel allgemein üblicher Brauch. Man sah oft Ehepaare schweigend undmit gesenkten Köpfen gehen oder in hastig gestikulierendem Gespräch – man konnte nur vermuten, daß es im Flüsterton geführt wurde, da es sofort abbrach, sobald Passanten in Hörweite kamen.
    »Ist es eine andere Frau?«
    »Nein. Wie kommst du darauf? Nein.«
    »Also ist es keine

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