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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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–«
    »Einverstanden«, sagte Richard nach einem vorsichtigen Blick auf Weniger.
    »Nein, nein, schon gut, noch ruft uns ja niemand«, erwiderte Weniger mit leichtem Lachen, »und wir kennen uns doch lange genug, um das gesprochene Wort und die Situation, in der es gesprochen wird, gegeneinander abwägen zu können.«
    »Da hast du natürlich recht.«
    »Das will ich meinen!« rief Weniger fröhlich. »Aber zurück zu dem, was du sagtest … Man kann daran denken, aber es ist Theorie. Gedanken sind ohne Konsequenzen; man kann damit spielen wie Kinder mit Klötzchen, und wenn man mit diesen Klötzchen ein Haus baut, das einem nicht gefällt, so verändert man es eben … Sag mal, frierst du gar nicht? Ich kann dir meinen Mantel borgen.«
    »Nein, ich friere nicht … Es ist doch ziemlich warm.«
    »Acht Grad habe ich vorhin am Thermometer gelesen. – Man kann das Haus nach Belieben verändern, und ohne Folgen.«
    »Das ist im wirklichen Leben nicht möglich.«
    »Es ist vielleicht möglich, Richard, aber manche Menschen haben das Problem, daß sie mit Häusern, die sie haben, nie zufrieden sind, sie müssen immer aufbauen und wieder verwerfen, und das tun sie ihr ganzes Leben und haben nie ein fertiges Haus, während ihr Nachbar, auf dessen Haus sie ohne Achtung geblickt haben, weil es windschief und vielleicht auch nicht sehr originell ist, weil es aus billigen Materialien besteht, eben doch ein fertiges Haus bewohnt hat –«
    »Schöne Umschreibung für einen Verzicht.«
    »Nein, das würde ich nicht sagen. Er hat sich entschieden. Hat beschlossen, das Beste aus dem zu machen, was er bekommen hat – und nicht seine Zeit an die Suche nach Dingen zu verschwenden, die er nicht bekommen kann.«
    »Woher weiß er, daß er sie nicht bekommen kann?«
    »Indem er sich nüchtern einschätzt.«
    »Wie erziehst du deine Kinder?«
    Weniger antwortete nicht sofort. »Ich sage ihnen, daß sie frei sind.«
    »Frei? In diesem Land?«
    »Was das betrifft, so ist man nirgendwo frei, glaube ich. – Ich meine: frei, klug zu werden über sich selbst – und ihr Haus zu bauen. Übrigens siehst du schlecht aus.«
    »Ja, mag sein. Ich schlafe nicht besonders gut.«
    »Das geht uns allen so«, sagte Weniger lächelnd.
    »– Wenn du etwas erfahren hast, das dich wütend macht, sagen wir: das den Eindruck erwecken könnte, du seist ziemlich hilflos –«
    »Erweckt bei dir etwas diesen Eindruck?«
    »Nein, ich meine nur … Ein Beispiel, das ist ein reines Beispiel, um die Überlegung im richtigen Rahmen zu halten. Also, wenn du so etwas erfahren hättest, ist es dann besser, sofort loszuschlagen – oder erst einmal abzuwarten?«
    »Das kommt sehr auf die Art der Erfahrung an, die mir diesen Eindruck erweckt. Und was du unter ›losschlagen‹ verstehst. Hierzulande dürften die Möglichkeiten zum ›losschlagen‹ begrenzt sein. Wenn man nicht zu denen gehört.«
    »Warte, ich habe mich schlecht ausgedrückt, ›losschlagen‹, das klingt wirklich etwas vermessen –«
    »Vielleicht doch ein andermal«, sagte Weniger ruhig.

25.
Leipziger Messe
    Philipp Londoner hauste in einer Siebzigquadratmeter-Wohnung in einem der Arbeiterviertel von Leipzig. Das Haus grenzte an einen Kanal, dessen Wasser vom Absud einerBaumwollspinnerei gallertig geworden war; tote Fische trieben darin und zersetzten sich langsam, das weiße Fleisch löste sich in Flocken von den Gräten, einzelne Flossen, blind gewordene Augen wurden von den Strömungen ans Ufer gedrückt und dünten im grauen Schaum, über den sich kahle Ulmenzweige reckten, bevölkert von Tausenden von Krähen, die dort ihr reichliches Auskommen fanden. Die Bewohner des Viertels hatten einen Spitznamen für die Fabrik: »Flocke«; im Umkreis von mehreren Kilometern lagen Baumwollflocken – die Leipziger sagten »Mutzeln« – auf den Straßen, wurden festgetreten und bildeten einen schleimig verwesenden Schorf, in dem sich der Geruch aller Hunde von Leipzig zu verdichten schien. Treibende Baumwolle blieb im Gestrüpp hängen, verstopfte sommers die Schornsteine, wanderte mit den von der Abluft aufgewärmten Winden, wirbelte in Schleiern über die Dächer, senkte sich in Pfützen und Straßenbahngleise, so daß man, wenn die Bahn ins Viertel einfuhr, dies mit geschlossenen Augen erkennen konnte: plötzlich dämpften sich die Geräusche, und die Gespräche in der Bahn, die ein ununterscheidbares Gemurmel gewesen waren, verstummten.
    Meno kam in jedem Jahr zur Leipziger Buchmesse. Philipp bot

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