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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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schnitzen«.
    »Hab’ ein paar Fälle, die euch interessieren werden. Schlafen können wir immer noch.«
    »Ihr Wort im Ohr des Nachtdienstgotts«, sagte Wolfgang, ein in dreißig Jahren Dienst ergrauter Pfleger. »Wie heißt die erste Regel, wenn’s dunkel wird? Schlaf, soviel du kriegen kannst – und trau keiner ruhigen Minute! Das ist die Ruhe vor dem Sturm!« Die drei Ärzte gingen schweigend nebeneinander her, gedankenversunken – was gab es auch zu besprechen; sie kannten einander seit langem, Dienst war Dienst; es war nicht üblich, im Gespräch – außer, wenn man, wie Richard und Weniger, befreundet war – eine gewisse Grenze zu überschreiten. Privates blieb ausgespart, nicht aus Desinteresse, sondern aus Gründen eines Taktgefühls, das sich als Sympathie äußerte und das nach einem ungeschriebenen Kodex durch ein allzu vertrauliches Gespräch zwischen Kollegen verletzt worden wäre. Man kannte den andern, man wußte, wer man war (oder zu sein schien), nickte schweigend, das war alles, und es genügte.
    Sie hörten eilige Schritte hinter sich, Pfleger Wolfgang winkte Prokosch zu.
    »Wo?« fragte der.
    »Station 9 d. Ihr Vordergrunddienst hat in der Hautklinik zu tun. Der Gott des Nachtdiensts liebt den Schlaf nicht.«
    »Man soll eben nicht wider den Stachel löcken.« Prokosch zuckte resigniert die Achseln. »Ich glaube, wir sehen uns heute noch. Na dann.«
    Ein Krankenwagen näherte sich von der Akademiepforte her, aber ohne Blaulicht; sie beobachteten, wo er hinfuhr; er schwenkte hinter dem Parkplatz nach rechts, in Richtung Stomatologische Klinik.
    »Nichts für uns«, sagte Weniger. Sie gingen langsam die Akademiestraße zurück.
    »Manfred, darf ich dich was fragen?«
    »Nur zu.«
    »Hast du manchmal daran gedacht, wegzugehen?«
    Weniger warf einen raschen Blick auf Richard, musterte die Umgebung, sie wechselten auf die Straßenmitte.
    »Ich denke, das haben wir alle schon. – Auf dem letzten Gynäkologenkongreß ist mir eine Stelle angeboten worden.«
    »Das meine ich nicht.«
    »– Es sind keine guten Gedanken.«
    »Aber man hat sie.«
    »Jeder Mensch ist anders. Ich glaube, so kann man nicht leben.«
    »Hast du im Studium daran gedacht, wie es ist, Vater zu sein, Kinder mit einer Frau zu haben, sie zu erziehen –«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube nicht.«
    »Eine in allen lieben –«
    »Das weißt du noch.« Weniger starrte ins Dunkel.
    »Und –« Richard brach ab. Eine Frau näherte sich; er erkannte schon von weitem, daß es Josta war. Sein erster Impuls war, in einen der Seitenwege abzubiegen, aber sie sah ihn an, und auch Weniger hatte sie jetzt gesehen: »Frau Fischer, Sie sind so spät noch da? Gibt’s was Besonderes im Rektorat – von dem wir wissen müßten?«
    »Nein«, sagte sie knapp, ohne ihn beim Namen zu nennen oder zu begrüßen. »Nur einfach viel Arbeit. Aber nichts Besonderes. Baumaßnahmen und Beantragungen, Herr Dozent.«
    »Wie geht’s Ihrer Tochter?«
    »Oh, sie ist jetzt in der Mittelgruppe im Kindergarten. Sie zeichnet sehr gern. Ich glaube, sie müßte mal zum Kinderarzt, sie klagt über Ohrenweh.«
    »Bei wem sind Sie denn?«
    Sie nannte einen Namen. Sie vermied es, Richard anzusehen. »Sind Sie zufrieden?«
    »Naja, es ist eine Poliklinik, man hat sehr lange Wartezeiten, und ich möchte die Sache nicht verschleppen –«
    »Ich werde mal mit Professor Rykenthal sprechen, wenn Sie einverstanden sind. Rufen Sie mich doch morgen mal an.«
    »Das werde ich tun. Danke, Herr Dozent. – Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Ruhigen Dienst wünsche ich, auf Wiedersehen.«
    »Hübsche Frau«, sagte Weniger, als sie gegangen war. »Zwanzig Jahre jünger müßte man sein – und«, er fuhr sich über die Glatze, »nicht soviele Haare haben wie ein Affe. Mein Gott, ich seh’ ihre Kleine noch, frisch abgenabelt und eingewickelt, und ihr Gesicht, als die Hebamme ihr das Baby gab. Das ist immer derschönste Moment.« Weniger betrachtete seine Hände. »Da weiß man, wofür man lebt und wofür diese Pfoten da sind. Das geht dir sicher ähnlich.«
    »War’s eine schwere Geburt?«
    »Ja, ziemlich. Aber sie hat keinen Mucks gesagt. Das erlebt man auch nicht mehr oft. Früher und auf dem Land, ja.«
    »Wir sind unterbrochen worden.«
    »Du willst also bei diesem Thema bleiben. – Wir müßten uns ein andermal darüber unterhalten, nicht im Dienst, wo uns jeden Augenblick jemand rufen kann und Dinge stehenbleiben könnten, die man besser geklärt hätte

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