Der Turm
mit der Verpflichtungserklärung hin, doch Christian hörte noch nicht auf, um zu unterschreiben, sondern fand auf einmal Argumente für den dreijährigen Ehrendienst, die nicht einmal seinem Vater eingefallen waren: Jedem geistig Tätigen tue es gut, einmal für längere Zeit mit einfachen Menschen zusammenzuleben und sie dadurch besser kennenzulernen, gerade dann, wenn man Medizin studieren wolle, seien die so gewonnenen Kenntnisse außerordentlich wertvoll, denn wie wolle man Menschen ein guter Arzt sein, wenn man ihnen mit Standesdünkel, mit Distanz oder mit Herablassung begegne: Hier blickte Fahner zum ersten Mal auf die Uhr. Er sei hier geboren, in diesem Land, zwanzig Jahre nach dem menschenvernichtenden Krieg des Hitlerfaschismus, der vom Geld der Großindustrie gespeist worden sei. Nie wieder dürfe sich ein solcher schrecklicher Krieg wiederholen und das verbrecherische Regime, das ihn hervorgebracht habe; die Medizin sei eine humanistische Wissenschaft, der sozialistische Staat humanistisch, und humanistisch auch seine Armee, die dem Frieden diene mit ihren Waffen, das sei kein Widerspruch, wie man aus dem Gedicht Wilhelm Buschs vom Fuchs und dem Igel wisse, bewaffnet, doch als Friedensheld, laß dir erst deine Zähne brechen, dann wollen wir uns weiter sprechen. Fahner runzelte die Stirn noch tiefer und warf zum zweiten Mal einen Blick auf die Uhr in dem Moment, als Christian endlich aufsah, zum Stift griff und unterschrieb, Fahners Stirn glättete sich, in seinen Augen lag, Christian war sich nicht sicher, ob es stimmte, ein sonderbares Empfindungsgemisch, freundlicher Abscheu. »Sie können gehen, Jugendfreund Hoffmann, ich bin stolz auf Ihr Bewußtsein. Schicken Sie mir Ansorge rein.«
Christian erinnerte sich noch einmal daran, wie sie Falk nachgeschaut hatten, Jens’ schale Witze im Ohr; Christian lag jetzt im Bett des Internatszimmers und starrte an die Decke, an der die Lichter von Fernlastzügen von der F 170 wanderten, hörte Stimmengemurmel von nebenan, wo die Jungen aus der Zwölften ihr Zimmer hatten, auf dem Flur schepperte etwas, Frau Stesny war noch da und half den anderen bei der Vorbereitung desAbendbrots, und wieder sah er Falk vor sich, die aufs Geländer pochende Hand, den grünen Kamm in der Gesäßtasche, und eben hatte er, Christian, begriffen, daß er vor Fahner gekrochen war, sich auf das ekelhafteste verleugnet hatte … und doch hatte er es im Direktionszimmer nicht so empfunden, er hatte Fahner nicht angelogen, er war, als er Fahner gegenübergesessen hatte, von dem überzeugt gewesen, was er sagte. Und Falk geriet allmählich außer Sicht, keiner der drei machte Anstalten, ihm zu folgen und ihn nach dem Verlauf des Gesprächs zu fragen, sie hatten ihn auch später nicht gefragt, und er hatte bis jetzt nichts gesagt. Christian sah sich, wie er vor dem Sekretariat stand und kein Mitleid für Falk empfand. Das war die zweite überraschende Erfahrung dieses Tages. Was er empfand, war Verachtung, sogar Feindseligkeit. Er wußte nicht, ob Falk den Mut aufgebracht hatte, zu seiner Überzeugung zu stehen, die er vor ihnen am Kaltwasser ausgesprochen hatte, wahrscheinlich verhielt es sich so, und was Christian so erschütterte, war, daß er genau deshalb Falk gegenüber Verachtung empfand. Aufrichtigkeit, auch und gerade dann, wenn es brenzlig wurde, war er nicht so von seinen Eltern erzogen worden? Gleichzeitig übten sie mit ihm das Lügen … Christian erinnerte sich an einen anderen Tag, den er nicht vergessen würde. Es war einer der letzten Ferientage vor seinem Eintritt in die Erweiterte Oberschule gewesen. Sein Vater hatte Erik Orré mitgebracht, Tietzes Nachbar und Gudruns Kollege am Dresdner Großen Haus. Er war Richards Patient gewesen und nun gekommen, seinen Dank auf ungewöhnliche Weise abzustatten, nämlich Christian und Robert die Kunst des sach- und fachgerechten Lügens beizubringen, die Richard vor allem für Christian für notwendig hielt, und so hatte der Mime mit ihnen – und auf Niklas’ Bitten auch mit Ezzo – vor dem aus dem Flur herbeigeschafften Spiegel das enthusiastische Loben geprobt, ihre Gestik korrigiert, ihnen gezeigt, wie man willentlich rot und blaß werden kann, wie man mit einiger Würde schmeichelt, mit ernstester Miene Torheiten sagen und diese wie eine Tarnkappe über seine wahren Gedanken ziehen kann, wie man Komplimente drischt, die leer sind, aber intelligent schmeicheln, wie man Mißtrauen zerstreuen kann, wie man selbst andere
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