Der Turm
Ton, »das begehrteste und schwierigste Studium. Ihre Noten sind gut, außer in Mathematik. Da scheinen Sie eine Katastrophe abzugeben. Aber Zensuren allein machen keinen Mediziner. Was nützen uns Verräter, die auf Kosten unseres Staates die EOS und die Universität besuchen, danach aber nichts Besseres zu tun haben, als egoistisch nur an sich zu denken und sich davonzumachen? Soziale Verantwortung, Hoffmann, auch das zählt. Es zählt sogar vor allem. Der parteiliche Standpunkt. Die Menschen hier ermöglichen es Schülern wie Ihnen, sich frei von Sorgen Wissen anzueignen, und gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verpflichtung: Sie, indem Sie Ihr Bestes geben – und ich, indem ich Ihnen dabei helfe, wenn Sie guten Willens sind. Und indem ich diejenigen, die sich als Schmarotzer entpuppen, die nicht begreifen können oder wollen, was unsere Arbeiter- und Bauern-Macht für sie tut, indem ich solche Subjekte erkenne und als das behandle, was sie sind. Unser Volk investiert Hunderttausende von Mark in Ihre Ausbildung. Dieses Vertrauens und dieser Großzügigkeit müssen Sie sich würdig erweisen. Deshalb erwarte ich von Ihnen Ihr Ja zum dreijährigen Ehrendienst in unseren Streitkräften, mit dem Sie Ihrem Volk ein klein wenig von dem zurückgeben, was es für Sie leistet. Zumal Sie als Agitator eine Vorbildrolle in Ihrem Klassenkollektiv einnehmen! Ihr Standpunkt.« Fahner legte den Stift beiseite, mit dessen Spitze er, seine Rede bekräftigend, auf den Tisch eingestochen hatte. Christian hatte vorgehabt, etwas einzuwenden, Fahner wenigstens einmal zu widersprechen, es ihm nicht ganz so leicht zu machen, aber er konnte nicht, er mußte Fahner innerlich recht geben. Er spürte, daß es in Fahners Argumenten einen entscheidenden Fehler gab, aber er fand ihn nicht heraus, sosehr er sich auch mühte; eine Diskussion würde darauf hinauslaufen, wieso er diesem Land ein Recht verweigerte, das alle anderen Länder wahrscheinlich ebenso beanspruchten,wieso er, und an diesem Punkt der Diskussion wäre es gefährlich geworden, zwischen der Landesverteidigung drüben und hier, zwischen der Bundeswehr und der NVA, einen Unterschied machte. Er sah die entsetzten Gesichter seiner Eltern vor sich, die mit ihm dieses Gespräch und mögliche Argumentationen an mehreren Wochenenden durchgeprobt hatten; er hatte den undemokratischen Charakter der hiesigen Streitkräfte erwähnt und sich, seit vielen Jahren wieder einmal, eine Ohrfeige von seinem Vater eingehandelt. Christian, du hältst deinen Mund, hast du das verstanden! Und Christian hatte seinen Vater für einen Moment gehaßt – obwohl es Fahner war, den er hätte hassen müssen; aber den haßte er nicht und wunderte sich darüber, wie er, vor ihm auf der Stuhlkante hockend, an Fahner vorbei mit Verständnis auf die Gesichter der Genossen Machthaber blickte; er empfand keinen Haß, sondern das Bedürfnis, Fahner zuzustimmen, und das nicht nur mit lauen Worten, die der Direktor gewiß schon hundertmal zu hören bekommen hatte und deren Phrasenhaftigkeit mit der Eilfertigkeit, in der sie parat waren, eine widerliche Verbindung eingingen; eine Art von Bimetall, die Angst kroch hindurch als Strom, erzeugte Wärme, das Metall krümmte sich, und das Lämpchen der Lüge leuchtete auf. Christian hatte das Bedürfnis, Fahner nicht zu enttäuschen, ihm entgegenzukommen, ihn zu unterstützen. Deshalb vermied er die Phrasen und begann ehrlich zu lügen.
Blaß vor Überzeugung sagte er, daß er sich mit diesen Gedankengängen schon seit längerem, genauer seit der Bewerbung um einen Platz auf der Erweiterten Oberschule in der neunten Klasse seiner POS in Dresden beschäftigt habe; er kenne einen ähnlichen Fall, der damals in seiner Klasse geschehen und unter den Schülern kontrovers diskutiert worden sei, es sei dann bei einem Fahnenappell vorgeschlagen worden, die Stellungnahme zu diesem Fall zum Bestandteil aller Bewerbungen um einen EOS-Platz zu machen, und seine, Christians, Meinung habe sich seither nicht geändert. In Dresden habe es im Februar Demonstrationen für den Frieden gegeben – Fahner blickte auf, Christian wußte nicht, warum er dieses Thema, das in Waldbrunn tabu war, anschnitt, warum er sogar noch weiterging und die Lage in Polen – er sagte: der VR Polen – und in Afghanistan ansprach,Fahner verschränkte die Hände und runzelte die Stirn; wo das System des Sozialismus von revanchistisch gesonnenen Kräften bedroht werde, hier schob Fahner ihm das Schriftstück
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