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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Lügner, unter Umständen, erkennt. Anne war währenddieser Übungsstunden hinausgegangen. Christian hatte sie in seines Vaters Arbeitszimmer weinen hören. Richard hatte ihnen zugesehen, blaß und streng, später hatte er zu Anne gesagt, daß es hart sei, aber leider nötig, besonders für Christian. Die Jungs könnten von diesen Kenntnissen nur profitieren, es sei ein schmaler Grat, aber er habe es ihnen erleichtern wollen, darauf zu balancieren und ihn überhaupt zu erkennen. Zum Schluß hatte Erik Orré darum gebeten, ihn weiterzuempfehlen, er könne sich vorstellen, daß es »weiteren Bedarf in diesem Viertel geben« könne, und Herr Doktor Hoffmann kenne seine Pappenheimer sicherlich besser als er.
    Von nebenan, aus dem Internats-Gemeinschaftszimmer, war jetzt die Stimme des Liedermachers Gerhard Schöne zu hören, der sich bei den Mädchen großer Beliebtheit erfreute. Der sang auch von Aufrichtigkeit … Christian lag reglos, die Gedanken peinigten ihn. Hätte er nicht Mitleid für Falk empfinden müssen? Erst recht, wenn er Arzt werden wollte – Arzt, für den das Gefühl der Verachtung nicht existieren dürfte? Wollte er tatsächlich Arzt werden? Folgte er damit nur der Familientradition oder tatsächlich innerem Antrieb? Und warum hatte er Falk verachtet? Er wußte es nicht. Auf alle diese Fragen fand er keine Antwort, keine Erklärung.
    Er lauschte ins Dunkel, ob die anderen in den Gemeinschaftsraum zum Essen gegangen waren, dann würde er in die Turnhalle zum Duschen gehen können. Er mußte sich beeilen, denn Frau Stesny hatte seine Abwesenheit gewiß bemerkt und würde an die Tür klopfen, um ihn zum Essen zu rufen. Er mußte die kleine Zeitspanne abpassen, in der niemand auf dem Flur war, dann konnte er aus dem Zimmer huschen und würde den Duschraum für sich allein haben. Es war riskant, und er mußte schnell sein, auch drüben beim Duschen, er mußte immer damit rechnen, daß jemand kam, obwohl heute keine Sportgruppe die Halle benutzte. Er hatte sich den »Turnhallen-Nutzungsplan« abgeschrieben und auswendig gelernt.

27.
Die Fahrende Musik. All unsere Kraft. Die Fee der Buchstaben
    Auf einem seiner Spaziergänge sah Christian Siegbert vor Verenas Haus warten. Er sah zu den noch dunklen Fenstern in der Lohgerbergasse hinauf, die sich hinter der Kirche befand. Christian, müde von stundenlangem Lernen und in Gedanken, hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt und wäre ihm beinahe in die Arme gelaufen; aber er ahnte, daß Siegbert das nicht willkommen gewesen wäre, und bog noch rechtzeitig in den Schatten der Kirche ab. Er beobachtete Siegbert, der ungeduldig zu sein schien, nervös eine Zigarette rauchte. Bald würden die Geschäfte schließen, Passanten mit Einkaufsnetzen eilten zum Marktplatz, in einem Mann mit Schal und Baskenmütze, der ein Fahrrad vor sich herschob, meinte Christian Stabenow zu erkennen und drückte sich noch tiefer in den Schatten des Mauervorsprungs. Es dunkelte rasch. In der Lohgerbergasse gab es keine Laternen, im Haus der Winklers und in einigen Nachbarhäusern flatterte Licht auf, streute trübe Helligkeit auf das Katzenkopfpflaster. Verena kam aus dem Haus, nickte Siegbert zu, die beiden gingen zusammen weg. Am liebsten wäre Christian ihnen gefolgt, aber sie bogen am Ende der Gasse zur Wilden Bergfrau ab; auf der langen Uferstraße würden sie ihn schnell bemerkt haben, sie verlief bis zum Stadtschloß gerade und war gut einsehbar. Wahrscheinlich gingen sie ins Kino oder in den Jugendklub »Wostok«, der sich in einem baufälligen Gebäude hinter dem Stadtschloß befand. Dort gab es eine Diskothek, in der, obwohl die Kreisparteileitung in Sichtweite lag, erstaunlich freizügige Musik lief. Vielleicht waren sie auch unterwegs zu den »Kultursälen«, einer ehemaligen Bowlinghalle, in der Musiklehrer Uhl unnachgiebig versuchte, den Waldbrunner Bürgern die Ernsten Künste nahezubringen.
    Uhl, dachte Christian und sah wieder Verena vor sich, wie sie aus dem Haus kam und mit Siegbert wegging. Uhl war ein merkwürdiger und zerrissener Mensch, tobsüchtig, uneigennützig und besessen. Er sah wie ein der Oper entstiegener Fliegender Holländer aus mit seinem lackschwarzen Haar, den Sichelbrauen, dem Wagnerbart. Die Schüler fürchteten ihn, seinerUnberechenbarkeit und Wutausbrüche wegen. Ein rastloser, oft zynischer Mensch, der Schüler, die nicht singen konnten, manchmal bis zu Tränen bloßstellte. Er spielte vorzüglich Klavier, aber seine Lippen verrieten Geringschätzung

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