Der Turm
Nachforschungen waren ergebnislos geblieben.
»Genausogut könntest du sagen: Ich will zur See, die verlangen, daß ich einen Menschen töte – also töte ich einen Menschen«, unterbrach Verena das Schweigen.
»Meine Herrn«, sagte Jens.
»Moment mal«, erwiderte Siegbert. »Immerhin bin ich der Mensch, um den es geht. Die vier Jahre lade ich auf meinen eigenen Buckel. Außerdem hast du leicht reden, Verena, für dich stellt sich das Problem nicht, auf dich wartet kein Wehrkreiskommando.«
»Menschen töten … Das kann bei der Fahne blühen … An der Grenze sollen die NVA-Regimenter immer noch erhöhte Bereitschaft haben, und wenn’s dich dorthin verschlägt … Heute eingezogen, morgen mit der Knarre in der Hand in Polen einmarschiert … Oder in Angola. Mein Vater sagt, dort sollen Castros Soldaten sein, und die Russen auch … Ich mach’ das nicht mit«, sagte Falk.
»So standhaft? Und wenn sie dich rausschmeißen?«
»Mach’ mal bißchen halblang, Verena«, sagte Jens in ziemlich scharfem Ton, »War ja nicht schlecht neulich, als du ein leeres Blatt abgegeben hast, aber gekniffen hast du ja dann doch –«
»Ansorge, bei dir piept’s wohl!« Reina tippte sich an die Stirn. »Komm, Verena, was wollen wir eigentlich hier.«
»Du hast recht«, sagte Verena nach einer Weile. Überraschte Blicke wanderten hin und her, denn sie hatte es zu Jens Ansorge gesagt.
Drei Jahre Nationale Volksarmee. Christian wußte, daß er diese Stunde nicht vergessen würde, diesen fünfundzwanzigsten April neunzehndreiundachtzig; vorgestern. Sie hatten zu dritt vor Fahners Sekretariat gewartet, Jens Ansorge hatte die Situation mit Witzen zu überspielen versucht, dann war Falk herausgekommen, eine Spur blasser als sonst, die rechte Handumklammerte die abgeschabte kunstlederne Aktentasche mit dem Schriftzug VEB GISAG Schmiedeberg , die er von seinem Vater bekommen hatte; er nickte und lächelte an ihnen vorbei in den hellgrauen Flur der Polytechnischen Oberschule, der mit Fahnen und Wimpeln zum »Karl-Marx-Jahr 1983« dekoriert war. Jens schwieg, Christian mied Siegberts Blick, der seinen suchte, keiner von ihnen rief Falk hinterher, bat ihn stehenzubleiben, fragte, was gewesen war; sie sahen ihm nur nach, wie er ging: Er schlenkerte etwas weniger als sonst, hielt sich nahe am Geländer, plötzlich schien es einen Riß zu geben zwischen Falk und ihnen, sein Handballen, der gegen den gummierten Geländerlauf schlug, das brummende Geräusch widerhallend im Treppenhaus, seine zu weiten Hosen mit dem grünen Plastkamm in der Gesäßtasche, dessen tropfenförmig aufgebogener Griff vorwitzig über den Gürtel ragte, die eckigen Schultern unter dem FDJ-Hemd: da war etwas, das sie losgelassen hatten, alle drei, nur jeder wahrscheinlich auf seine Weise, und der Riß, den Christian spürte, kam daher, daß er kein Mitleid empfand. Es war nicht nur das Gespräch, weswegen er diesen Tag nicht vergessen würde.
Es war anders abgelaufen als erwartet, in beinahe freundlicher Atmosphäre. Vielleicht war Fahner in aufgeräumter Laune gewesen, weil Siegbert vor Christian eingetreten war und für vier Jahre unterschrieben hatte, Beweis der friedliebenden Gesinnung bewußt und fortschrittlich denkender junger Staatsbürger; auch diesmal wieder das Spiel mit Papier und Stift und Schweigen, unschlüssigem Warten in der Nähe der Tür, bis Fahner ohne aufzusehen »Hoffmann« gemurmelt hatte und, einige Sekunden später, als wäre ihm der Vorname erst jetzt eingefallen, »Christian« und, wiederum nach einiger Zeit, »Nehmen Sie Platz«. Dann hatte er die Hand ausgestreckt und Christian jäh ins Gesicht geblickt, im gleichen Schwung aber auf einen Stuhl gewiesen, als hätte er einen Fehler gemacht mit dieser Geste, die als unzulässig gewertet werden konnte, jedenfalls unvereinbar war mit seiner Position als Gesamt-Direktor des Schulkomplexes »Maxim Gorki«. Christian war verlegen, weil Fahner gut aussah mit seinem in Jugoslawienurlauben gebräunten Gesicht, den blauen Augen und den Benjamin-Britten-Locken. »Nach dem, was ich über Siehöre, scheinen Sie sich nicht besonders anzulassen, Hoffmann«, hatte Fahner gesagt, die Hände über einem Bogen Papier verschränkt, auf dessen Kopf Christian seinen Namen entzifferte; er war mit Schreibmaschine geschrieben, darunter standen teils maschinenschriftliche, teils handschriftliche Notizen; Christian erkannte auch Doktor Franks unleserliches Gekritzel. »Medizin«, sagte Fahner in nachdenklichem
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