Der Turm
gehen, er würde dafür Mitglied in der hiesigen Ortsgruppe des »Deutschen Anglerverbands« werden müssen; komisch, diese Spitznamen. »Roter Adler«, wie sie den Staatsbürgerkundelehrer und Direktor des Schulteils EOS, Herrn Engelmann, nannten, hatten sie von längst abgegangenen Schülergenerationen geerbt und widerspruchslos übernommen. Sprach das gegen ihre Phantasie oder für die Treffsicherheit des Namens – Christian entschied sich für letzteres. Es war nun einmal so, daß Engelmann, wenn er die Arme breitete und mit begeisterungsnassen Lippen, über denen flammendrot die Krugnase leuchtete, von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution erzählte, an der sein Vater im Gefolge von Trotzki beteiligt gewesen war, wenn er mit den Händen zu wedeln begann, die Augenlider hinter der dicken Brille tiefer sanken, um den Blick in vergangene große Zeiten schwimmen zu lassen, daß Engelmann dann einem schwerfällig gewordenen Adler glich, der durch die Klasse rauschte und Aprilthesen diktierte, wobei die Worte aus seiner fahl brodelnden Kettenraucherstimme zu fallen schienen und wie frühe Pflaumen auf die tief eingezogenen Schülerköpfe klopften.
»Erst quetscht dich Roter Adler aus, dann Fahner … Ich wandere sowieso für vier Jahre ab.«
Verena starrte erschrocken auf Siegbert, der Steinchen sammelte und ungerührt in den hellblauen Himmel schnippte.
»Vier Jahre … Bist du bekloppt?« Jens taxierte Siegbert, als hätte der die ganze Zeit eine Maske getragen, unter der nun das Gesicht eines Monsters zum Vorschein kam. Siegbert lächelte kühl.
»Nur realistisch. Ich will nautischer Offizier werden. Ich war letzten Sommer in Rostock. Die nehmen keinen, der nicht als Offizier auf Zeit bei der Volksmarine gewesen ist.«
»Ich denke, du willst zur Handelsflotte?«
»Das macht leider keinen Unterschied, Montechristo.«
»Der Graf von Montechristo«, Verena ahmte mit affektiertgespitzten Lippen Christian nach, wie er sich die zu lange Haartolle aus der Stirn strich, sie legte den Kopf schief, leierte die Augen nach oben und legte dann mit tuntig übertriebener Bewegung die imaginäre Tolle zurück, eine Geste, die er tic-artig oft machte und die er sich sofort abgewöhnen mußte, wenn sie für andere so aussah, wie Verena vorführte. »Was für ein passender Titel für Seine Dresdner Hoheit –«
»Klappe«, knurrte Christian. Die beiden Mädchen prusteten los.
»Sieh’s gelassen, Alter«, beschwichtigte Jens, »die Weiber sind in der Pubertät, und dieser Spitzname hält sich sowieso nicht. Viel zu lang und umständlich zu sprechen. – Aber, Siggi, Mensch: vier Jahre!«
Siegbert zuckte die Schultern. »Ich will zur See. Die wollen vier Jahre Marine. Also gehe ich vier Jahre zur Marine.«
»Na spitze«, sagte Verena. Ein wenig Verachtung, so schien es Christian, lag in ihrer Stimme, ein wenig Zorn. Er dachte über Siegberts Antwort nach, und auch die anderen schienen es zu tun, sie waren still geworden. Er stellte sich Fahner vor, der die Jungen einzeln zu sich zitierte, ins Direktorenbüro drüben in der Polytechnischen Oberschule, das von seiner Frau an einer schweren »Optima«-Schreibmaschine bewacht wurde; gewiß würde Fahner, wie er es immer tat, wenn man auf das gebellte »Ja!« hin die Klinke gedrückt hatte, am Schreibtisch sitzen und schreiben, ohne aufzublicken, so daß man das von Jalousien in Streifen geschnittene Licht auf dem glänzend gebohnerten PVC-Fußboden, die verschatteten und strengen Gesichter von Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und der Ministerin für Volksbildung an der Wand über Fahners Kopf betrachten konnte, verlegen darum, was zu tun sei, denn Fahner sagte nicht »Treten Sie näher« oder »Setzen Sie sich«; Fahner sagte überhaupt nichts, saß da und schrieb, trug Ärmelschoner aus FDJ-blauer Seide über dem eleganten Anzug, die er irgendwann mit gemessenen, von widerstreitenden Überlegungen kündenden Fingerspitzen abziehen und auf den Tisch neben die akkurat nach Länge geordneten und nadelscharf gespitzten Bleistifte legen würde. Im Musikunterricht bei Herrn Uhl hatten sie neulich über den englischen Komponisten Benjamin Britten gesprochen, undChristian war verblüfft gewesen über die Ähnlichkeit von Brittens und Fahners Kopf: die gleiche, raupig wirkende Lockenpracht, die gleichen jungenhaft weichen Züge; die Ähnlichkeit war so ausgeprägt, daß Christian Nachforschungen angestellt hatte, ob Britten einen Sohn im Erzgebirge gehabt habe … Seine
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