Der Turm
Krankenwagen zu spät gekommen wäre; was, wenn Josta das wiederholte, was sie heute getan hatte, dann aber –
Hatte sie an die Kinder gar nicht gedacht? Das konnte er sich nicht vorstellen. Keine Mutter tat das. Jedenfalls war ihm eine solche Mutter noch nicht begegnet. Hatte sie darauf gehofft, daß er sich um die Kinder kümmern würde? Hatte sie jemanden informiert? Er durchsuchte die Wohnung nach einem Abschiedsbrief, fand aber keinen. In der Schublade ihres Nachtschränkchens lagen Unmengen von Schlaf- und Beruhigungstabletten, auch weitere Packungen Obsidan. Woher hatte sie die? Betablocker waren rezeptpflichtig, jemand mußte sie ihr verschrieben haben, oder sie hatte sie sich auf Schleichwegen besorgt; aber diese Medikamente waren registriert … Hatte sie eine Herzkrankheit, von der sie ihm nichts erzählt hatte? Welcher Leichtsinn, dieses Zeug hier aufzubewahren, die Kinder konnten heran, und zumindest Lucie war noch nicht aus dem Alter, in dem man alles in den Mund nahm. Er warf alle Tabletten weg, die Obsidan, wenn sie sie brauchte, würde sie wiederbekommen. Dann durchsuchteer Jostas Kleider und Taschen im Schrank – nichts. Also eine Kurzschlußreaktion. Er setzte sich aufs Bett, wo das zerknüllte Laken noch die Spur ihres Körpers zeigte. Auf dem Nachtschränkchen war der Abdruck eines Flaschenbodens zu sehen, die Sanitäter hatten die Flasche wahrscheinlich, wie auch die Tablettenpackung, in die Klinik mitgenommen. Was sollte er jetzt tun? Wie würde es mit Josta, mit ihm, mit Anne, den Kindern überhaupt weitergehen? Lange Zeit saß er reglos. Nebenan lief der Fernseher, Lucie war offenbar zufrieden, er hörte sie hin und wieder lachen und in die Hände klatschen. Daniel saß vielleicht daneben und begutachtete das Taschenmesser … Oder überlegte, was er tun würde, wenn »sein Onkel« gegangen war. Dann fiel Richard wieder das ungelöste Problem ein, wer auf die Kinder aufpassen sollte.
Frau Schmücke hatte sich umgezogen und schien wieder betrunken zu sein, wedelte mit der linken Hand, doch er bemerkte, daß sie gerade dabeigewesen war, sich die Nägel zu lackieren, offenbar wollte sie ausgehen. Richard war erstaunt über die Fülle ungebändigten Haars, es war ihm vorhin nicht aufgefallen.
»Kann ich Sie … Verzeihung, ich habe Sie gestört. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Kommen Sie rein«, sagte sie nach kurzem Zögern.
»Nicht nötig, vielen Dank, ich wollte Sie nicht –«
»Hören Sie, auch wenn Mai ist, ich hab’ immer noch geheizt, und zwischen Tür und Angel flutscht mir die Wärme raus. Es geht doch bestimmt um nebenan, das sollten wir nicht hier besprechen. Außerdem«, sie beugte sich etwas vor, ihre Stimme fiel in Flüsterton, »haben die Leute hier gerne ein Ohr im Hausflur, na, und nicht nur dort, denk’ ich.« Sie trat in den Flur, er folgte ihr unsicher. Diese Frau erregte ihn, das fand er grotesk, doch betrat er die fremde Wohnung mit Herzklopfen, und das machte ihn zu seinem Erstaunen neugierig. Sie hatte einen weichen Gang und trug keine Schuhe, um die linke Fessel ein Kettchen, ihre Zehennägel waren ebenfalls lackiert. Der Anblick ihrer nackten Füße mit den roten Nägeln und dem Kettchen erregte ihn noch mehr. Im Flur und im Wohnzimmer hingen Bilder dicht an dicht; es roch nach Farbe. Die Bilder beunruhigten ihn, Totemmasken in schroffen Kontrasten, schreiende blaue Münder,gelbe Vögel mit schwarzen und grünen Köpfen waren zu sehen, an die Wohnzimmerdecke waren Malerpaletten genagelt, und auf einer Staffelei in der Ecke, wo in den meisten Wohnungen dieses Typs der Fernseher stand, hockte ein Bild aus brutalem Rot, das sich in Schlieren ballte, zu fetten Strudeln krümmte, in der oberen linken Ecke klaffende Schnitte ertragen mußte, in der Mitte um eine dunkler gehaltene Spindel schwelte. Alle Bilder wirkten kraftvoll und packend, aber dieses besonders; Richard war beeindruckt, wehrte es ab, er war nicht hergekommen, um sich Malerei anzusehen. »Von Ihnen?« fragte er hastig und mehr aus Höflichkeit.
»Wollen Sie was trinken?«
»Danke, nein.«
»Sie brauchen jemand, der sich um die Kinder kümmert.«
»Entschuldigen Sie, daß ich damit zu Ihnen –«
»Geschenkt.« Sie goß Cognac in zwei Gläser. »Ich hab’ Frau Fischer schon öfter geholfen. Ich weiß auch, wo alles steht, was sie essen und was nicht, ich kann die Kleine in den Kindergarten bringen.«
»Nett von Ihnen.«
»Warten Sie’s ab.« Sie kam mit den beiden Gläsern auf ihn
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