Der Turm
»Alle Klingen, und hier: die Schere. Sogar die beiden Pinzetten sind noch dran.« Richard nahm das Messer, Daniel blieb mit hängenden Armen stehen.
»Paß auf, Daniel. Ich hole jetzt Lucie ab. Du bleibst hier – nein, du kommst mit. Ja, so machen wir’s. Wir holen sie zusammen ab.«
Daniel nickte. »Ich kann ja vor dem Kindergarten warten«, sagte er, ohne Richard anzusehen.
»Nein, das wird nicht gehen. Ich muß draußen warten. Ich bin ja bloß der Onkel, glaub’ nicht, daß sie mir Lucie geben. Aber dir werden sie sie geben, du bist ihr Bruder. Kennen sie dich? – Gut. Komm.«
Lucie hatte völlig versunken gespielt und war froh gewesen, daß sie endlich einmal das ganze schöne Spielzeug für sich allein gehabt hatte. Die Erzieherin war erleichtert gewesen, daß Daniel gekommen war, glücklicherweise fragte sie ihn nichts. Sie hatte Josta nicht erreichen können; unter der für Zwischenfälle hinterlassenen Nummer, dem Anschluß von Jostas Friseuse, nahm niemand ab. Lucie genoß die Fahrt mit dem Auto, wenn sie an einer Kreuzung hielten, winkte sie den Passanten zu, von denen manche erheitert zurückwinkten. Richard war es jetzt gleichgültig, ob jemand, der ihn kannte, aufmerksam wurde; er pfiff vor sich hin, brach ab, als er im Rückspiegel Daniels Gesicht sah.
Josta hatte eingekauft, er fand Käse, Brot, Butter, Wurst imKühlschrank, auch Fleisch und Eier waren da. »Soll ich euch was Richtiges machen?« Zu spät fiel ihm ein, daß er dann nach Bratenfett riechen und seine Ausrede, bei einer Konferenz gewesen zu sein, unglaubhaft werden würde. Zum Glück schüttelte Daniel den Kopf. »Hab’ kein’ Hunger.«
»Aber du mußt was essen, Junge.«
»Wo ist Mama?« fragte Lucie aus dem Wohnzimmer. Sie hatte den Fernseher angestellt, Richard hörte die Melodie der »Aktuellen Kamera«, kurz darauf knatterten Schüsse, wahrscheinlich hatte sie umgeschaltet, und es lief irgendein Abenteuerfilm.
»Lucie, was möchtest du zum Abendbrot?«
»Josta gibt ihr abends bloß was Leichtes, weil sie sonst schlecht schläft und Bauchschmerzen kriegt.«
»Was Leichtes, aha. Und – ist das was Bestimmtes?« Er wußte noch nicht einmal, was seine Tochter abends aß. Daniel seufzte. »Gib her, ich mach’s. Und spätestens um acht muß sie ins Bett. Normalerweise nach dem Sandmann. Und sie will eine Geschichte.«
»Und du selber, wann mußt du ins Bett?«
»Och …«
»He, mein Lieber, das läuft nicht! – Ich könnte euren Großeltern Bescheid sagen.«
»Weißt du denn, wo die wohnen?« fragte Daniel mißtrauisch. Richard wußte es nicht, und es gelang ihm nicht, das zu verbergen.
»Na, du gehst nachher sowieso. Sonst macht dir deine Anne die Hölle heiß. Josta ist im Krankenhaus, da kann ich machen, was ich will!« erwiderte Daniel trotzig und mit hämischem Grinsen, vor dem Richard erschrak. »Daniel, hör’ mal zu. Du hast jetzt auch Verantwortung. Du hast alles prima gemacht, wie ein Großer. Aber solange Josta nicht wiederkommt, mußt du auf Lucie aufpassen. Und auf die Wohnung. Verstehst du mich? Vielleicht schicken sie von der Sozialfürsorge jemanden her.«
»Kommst du morgen wieder?«
»Ja, morgen ist Donnerstag, da kann ich nach euch sehen. Versprichst du mir, daß du vernünftig bist?«
»Versprichst du mir auch was?«
Richard zögerte, der Blick des Jungen verwirrte ihn, Haß, Trauer, Angst waren darin gemischt. »Was?«
Aber Daniel sagte nichts, lief plötzlich hinaus.
Richard war nicht wohl bei dem Gedanken, die Kinder allein zu lassen. Es konnte vierzehn Tage dauern, bis Josta aus dem Krankenhaus entlassen werden würde. Bis dahin mußte er jemanden finden, der regelmäßig nach ihnen sehen konnte. Daniels Vater? Er hatte ihn nie gesehen, kannte weder Namen noch Adresse; Josta war allen Fragen ausgewichen. Die Friseuse? Die würde erst abends Zeit haben, außerdem waren Frisiersalons Zentren des Klatsches. Und wenn seine mühselig aufrechterhaltene Tarnung inzwischen wahrscheinlich hinüber war – provozieren mußte man nichts. Würde Pfleger Markus den Mund halten? Gleichviel, Jostas Tat würde für Wirbel sorgen, man würde nach Gründen fragen, Nachforschungen anstellen, die Konfliktkommission oder sonst eine dieser um den Menschen bemühten Organisationen in der Akademie würden sich, wie man das nannte, »ihrer annehmen«. »Ihrer annehmen«, er sprach es leise vor sich hin, und dabei wurde ihm bewußt, was das für die Kinder heißen konnte: Wer hätte für sie gesorgt, wenn der
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