Der Turm
Nummer weiß ich noch«, versuchte es Richard erneut.
»Kennen Sie ihre Angehörigen? Jemand, der ein paar Sachen bringen könnte?«
»Sie hat einen Sohn, soweit ich weiß. – Haben Sie ihr einen Schrittmacher gelegt?«
»Vorübergehend. Sie können trotzdem rein.«
»Vielleicht regt es sie zu sehr auf.«
»Soll ich was ausrichten?«, Markus warf ihm wieder einen raschen Blick zu.
»Schöne Grüße … von Oberarzt Hoffmann.«
Er rannte die Treppe hinunter. Er hätte vor Pein in den Boden versinken mögen. Markus hatte ihn durchschaut, da war er sich ziemlich sicher. Schöne Grüße … von Oberarzt Hoffmann! In der breiten, mit aschgrauem, bröckelndem Putz bedeckten Front des »R-Hauses«, wie die Klinik in Friedrichstadt hieß, standen viele Fenster offen. Krähen quarrten auf den Bäumen in der Mitte des im Karree angelegten Krankenhauses, Patienten spazierten auf den Parkwegen. Eine Sirene heulte aus der Richtung der Zigarettenfabrik »Yenidze«, Richard bekam einen Schweißausbruch und suchte eine Bank, hielt sich die Ohren zu. Als er sie öffnete, flaute die Sirene ab, die Glocken vom Marcolini-Palais, in dem sich die Krankenhaus-Verwaltung befand, und vom Alten Katholischen Friedhof auf der anderen Seite der Friedrichstraße läuteten. Ihm fiel ein, daß er nach den Kindern sehen mußte. Vielleicht waren sie zu Hause und warteten, vielleicht lief Daniel durch die Straßen, und Lucie war allein in Jostas Wohnung.
Er fuhr mechanisch, Straßen und Häuserreihen flimmerten vorüber, fast hätte er das Signal eines Verkehrspolizisten übersehen.Die Trillerpfeife und das heftige Kreiseln des Stabes ließen ihn aufschrecken. Er klingelte an Jostas Wohnung, niemand öffnete. Er wartete, versuchte es noch einmal. Schließlich klopfte er und rief an der Türritze nach Daniel. »Mach auf, ich bin’s.« Die Tür der auf halber Treppe gelegenen Toilette öffnete sich, die Spülung gurgelte. Jostas Nachbarin, Frau Schmücke, eine geschiedene, oft betrunken wirkende Verkäuferin in einem Fischgeschäft, trat heraus. »War vorhin der Krankenwagen da. Muß ganz schön was los gewesen sein bei dem Lärm, den die veranstaltet haben. Ich glaube, der Junge ist da, hab’ seine Stimme gehört. Er hat den Krankenwagen gerufen. Sind Sie der Onkel? Frau Fischer hat von Ihnen erzählt.«
»Ja«, sagte Richard nach kurzem Zögern.
»Schlüssel hab’ ich keinen.« Sie ging an die Tür und klopfte laut. »Daniel, dein Onkel ist da, mach auf!« Sie wandte sich wieder Richard zu. Sie trug zu einer abgewetzten Jeans ein farbverschmiertes Trikothemd, unter dem sich ihre Brustwarzen abzeichneten, und eine gehäkelte Stola, die verrutscht war. Sie bemerkte seinen Blick und warf die Stola über ihr Dekolleté. Ihre Hände waren voller Farbe.
»Wiedersehn«, sagte Frau Schmücke. Er sah auf ihre Hüften. Jostas Wohnungstür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Kommst du auch schon«, sagte Daniel.
»Ich hab’ deine Mutter besucht«, sagte Richard. »Läßt du mich rein?« Daniel machte ihm widerwillig Platz.
»Und wie geht’s ihr?« Angst flackerte über das Gesicht des Jungen, das eigentümlich häßlich war: abstehende Ohren, der Kopf fast ohne Hals in die Schultern gedrungen. Wie Zwerg Nase, dachte Richard. Er wußte nicht, warum er das dachte und warum er noch Sinn für solcherlei Beobachtungen hatte, warum seine Augen sie ihm ohne Mitleid präsentierten. In einer Aufwallung von Scham strich er Daniel übers Haar, aber der Junge wich zurück.
»Besser. Sie wird bald wieder gesund.«
»Kann ich sie besuchen?«
»Nein. – Wo ist Lucie«, Richard spähte ins Wohnzimmer.
»Noch im Kindergarten. Josta hat sie nicht abgeholt.« Daniel nannte seine Mutter immer beim Vornamen, was Richardmißfiel, er hatte es ihm auch einmal verwiesen, aber Daniel hatte erwidert: »Du hast mir gar nichts zu sagen, Hilfs-Papa.« – War das die Liebe, die der Junge angeblich für ihn empfand? Josta hatte abgewiegelt: »Laß ihn doch. Ich mag’s nicht, wenn er mich Mama nennt. Oder Mutti. Warum nicht Josta. So heiß’ ich nun mal.«
Plötzlich wandte sich Daniel ihm zu.
»Schon gut, mein Junge, schon gut … Wird schon wieder.«
»Das Gas war auch aufgedreht, ich hab’s wieder zugemacht und gelüftet, wie’s unten an der Tafel steht«, sagte Daniel ruhig.
»Gut gemacht.«
»Hab’ dein Taschenmesser noch.«
»Zeig mal.« Sie gingen ins Wohnzimmer, wo der Fernseher ohne Ton lief. Richard stellte ab, Daniel klappte das Taschenmesser auf.
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