Der Turm
SED und Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Genosse … dem Vorsitzenden des Präsidiums des Großen Volkshurals der Mongolischen Volksrepublik,Genossen … die Hand schüttelte. … vorrangiges Anliegen. … unerschütterliches Fundament . Nun wurde die Flaschenabfüllanlage des VE Kelterei und Konserven-Kombinat gezeigt, geräuschgedämpftes Klirren, während Abfüllmeisterin Genossin … von den übererfüllten Planziffern bei Stachelbeer-Süßmost sprach. … millionenfache Zustimmung . Das nächste Bild zeigte rollende Panzer während eines NATO-Manövers, Paul Schade brüllte »Ihr imperialistischen Hunde!« … unzerstörbares Vertrauensverhältnis . Flugzeuge donnerten am Himmel, bedrohlich reckten sich Raketen. Schnitt: ein Major in »Felddienstuniform Sommer« der Landstreitkräfte der Nationalen Volksarmee, mit aufgesetztem Stahlhelm und Fernglas vor den Augen, den Horizont absuchend: … eindrucksvolles Bekenntnis . Eschschloraque zog sein Taschentuch hervor und schneuzte sich trocken. Nun besuchten die Reporter der »Aktuellen Kamera« die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft »Vorwärts«, die den größten Kürbis der Republik geerntet hatte. »Kam schon in Außenseiter-Spitzenreiter!« krähte Paul Schade. … weltweite Anerkennung . … dynamisches Wachstum . Drei der vier Fernseher wurden plötzlich dunkel. Barsano drückte auf einen Knopf, es klopfte an der Tür, Herr Ritschel, im Kittel der Arbogastschen Institute, trat ein und fragte gleichmäßig betonend nach Barsanos Begehr. … tiefgreifende Veränderung , kam es aus dem noch laufenden Fernseher; Barsano fuchtelte zu den drei Apparaten und verlangte, Genosse Ritschel möge sie umgehend instand setzen.
Er ließ Stühle in sein Kabinett bringen, ein karg eingerichteter Raum am Ende eines mit grauem PVC belegten Flurs, der die Schritte schluckte; das Stimmengemurmel hinter den Türen mit den Behörden-Schildern, das Geräusch geöffneter und geschlossener Rollschränke, Schreibmaschinengeklapper schien in den Lichtpfützen zu verebben, die von Neonlampen mit vergilbten Schutzlamellen hinterlassen wurden. Während Paul Schade am Rednerpult sein Manuskript ordnete und auf Barsanos Nicken hin begann, sah Meno sich um: Holztäfelungen, einige Furnierschränke, ein flächiger Schreibtisch mit einem Wimpel in der rechten und einem handsignierten Lenin-Porträt, worauf Barsano sehr stolz war, in der linken Ecke, Fotografien seiner Frau – sie war Ärztin im Friedrich Wolf-Krankenhaus, eine derwenigen hohen Funktionärsgattinnen, die noch arbeiteten – und von seiner Tochter, über die, soweit Meno wußte, Barsano nicht sprach. Paul Schades Stimme höhte sich, hektische Röte stand in den Wangen des alten Arbeiterschriftstellers, und gleich würde geschehen, was auch auf dem Kongreß geschehen war: einer seiner gefürchteten, unflätig geifernden, von den Zuhörern mit geschlossenen Augen und versteinerten Mienen hingenommenen Tobsuchtsanfälle, der in Berlin grausig und grotesk geendet hatte: die Zahnprothese Paul Schades hatte sich gelöst und war, klappernd wie das Gebiß eines Gespensts, zwischen die Lippen gesprungen, was selbst dem Vorsitzenden des Verbands der Geistestätigen das Entsetzen ins Gesicht getrieben hatte. Schaudernd dachte Meno an den Lachreiz zurück, der ihn bei diesem Anblick, dem peinlich-eisigen Schweigen der Versammlung, in den Eingeweiden gestiegen war wie eine giftige, auf Hitzetiegeln rasch aufsiedende Flüssigkeit: wehe dem, der seine Beherrschung verloren hätte; um die Mundwinkel Judith Schevolas hatte es gezuckt wie jetzt, als Schade den linken Zeigefinger hob und auf »Schädlingen, Formalisten, abgehobener, volksfremder Schreiberei« herumdrosch, wobei er merkwürdigerweise nicht Meno, den Alten vom Berge oder Schevola ansah, wie in Berlin, sondern Eschschloraque, der in der ersten Reihe neben Barsano saß, ein Bein übers andere geschlagen hatte und seine Fingernägel mit desto gelangweilt-müderen Augenaufschlägen bedachte, je stärker Paul Schade in Rage geriet. Judith Schevola hatte wieder ihren Insektenforscherblick aufgesetzt, das kalte, steingraue Interesse an einem Mann, dem beim Schimpfen Orden und Auszeichnungen auf der Brust hüpften. Was dachte sie? Dachte sie darüber nach, daß Paul Schade im KZ gesessen, die Folterkeller der Gestapo kennengelernt hatte? Dachte sie an sein Buch, in dem er seine Kindheit in einem Berliner Arbeiterviertel beschrieb und mit dem er
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