Der Turm
bekannt geworden war, bis ihn niemand mehr freiwillig las seit »Brülle, Rußland« und diversen Romanen, in denen Stalin als Vater und das deutsche Volk als wölfisches Geschlecht unverbesserlicher Faschisten – mit Ausnahme der in die Sowjetunion emigrierten oder im Untergrund arbeitenden Kommunisten – dargestellt waren? Josef Redlich, neben Schiffner in der zweiten Reihe, wand sich auf seinem Stuhlunruhig hin und her. Konnte er nur das Geschrei nicht vertragen oder dachte er an Paul Schades Lektor, den niemand beneidete … Kunst sei Waffe im Kampf der Klassen, schrie Schade, es genüge heute nicht mehr, still in seinem Kämmerlein zu sitzen und gepflegte Sätzchen zu drechseln, es sei wieder eine Zeit der Bedrohung durch den alten Feind, den Imperialismus und seine Helfershelfer, da müsse die Literatur in die Offensive gehen, Romane müßten sein wie MIG-Flugzeuge und Artikel wie MG-Salven, und er fordere, Agitatoren an die Schulen zu schicken, die mit den Kindern revolutionäre Poesie übten; er beobachte, daß sich im Literatur- und Musikunterricht wieder bourgeoises Gedankengut einschleiche, Formalismus, Defätismus, er habe neulich in einem Schullesebuch Verse von Eichendorff entdeckt, das sei die blanke Reaktion. Und andere Romantiker! Früher habe so etwas am nächsten Laternenmast gebaumelt. Eschschloraque nickte.
Schiffner, der Paul Schade am Rednerpult ablöste, ließ Zahlenkolonnen rieseln, verweilte bei den übererfüllten Normen im Exportplan der Dresdner Edition ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet und der Devisenerwirtschaftung. Danach Josef Redlich über die politisch-ideologische Schulung der Autoren des Verlags, besonders der jüngeren; an dieser Stelle stand Judith Schevola auf und rief, sie ertrage es nicht mehr, verließ türknallend den Raum. »Keine Sorge, Gnädigste, wir werden Sie nicht behelligen, Sie sind weißglühend wie Eis!« spottete Eschschloraque ihr nach. Barsano kommentierte: »Ach, ist die empfindlich, dabei ist es korrekt, was Genosse Redlich fordert, nur zu korrekt! Haben die Zügel in letzter Zeit zu locker gelassen. Rächt sich immer. Hebt gleich die Reaktion ihre Schlangenköpfe. Glaubt, jetzt wär’ wieder was zu holen. Müssen aufpassen, Genossen. Jugend ist immer gefährdet. Muß ideologisch gefestigt werden.« Meno wagte nicht, aufzustehen und sein Referat vorzutragen, nachdem Josef Redlich an seinen Platz zurückgegangen war, es handelte ausgerechnet von der »Rolle des Autors in der ESG«, der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft, das schon in Berlin kritisiert worden war; er blickte zu Schiffner, der rasch den Kopf schüttelte, obwohl er aus dem Manuskript die provokantesten Stellen gestrichen hatte, und wollte gehen, um nach JudithSchevola zu sehen, wobei Paul Schade dies mißverstand: »Ihren Mist brauchen Sie hier nicht noch mal abzulassen, Rohde, für so was hätte Ihnen Ihre Mutter beizeiten links und rechts eine runtergehauen!« was schenkelschlagende Heiterkeit bei Barsano, Schubert und Schiffner hervorrief.
Meno verließ den Raum. Judith Schevola hatte das Fenster am Ende des Gangs geöffnet.
»Vorn gibt’s einen Balkon«, schlug er vor. Sie nickte. »Ich brauch’ frische Luft. Bloß weg hier.«
Ihre Schritte hallten auf den leeren Fluren. Nur noch aus wenigen Büros hörte man Stimmen und Schreibmaschinengeklapper. In der Rotunde schwelte das Gemurmel aus den Telefonzellen im Erdgeschoß, der Speisenaufzug im Schacht neben der Treppe setzte sich in Bewegung, eins der beigefarben lackierten Mikrofone der Haussprechanlage knackte, jemand räusperte sich, dann wurde es wieder still. Der Balkon lag auf der anderen Seite der Rotunde. Gardinen aus den Sechzigern, mit grauen Blumen bedruckt, verhängten die großflügelige Tür.
»Möchten Sie?« Er bot ihr von seinen »Orient« an, sie griff mechanisch zu, regte sich nicht, als er ihr Feuer gab.
»Darf ich Sie was fragen?« Sie wandte ihm das Gesicht zu, ohne ihn anzusehen; es wirkte blaß und müde, aber vielleicht täuschte er sich, von den Scheinwerfern, die vom Park auf das Schloß gerichtet waren, kam nur geringes Licht bis zu ihnen. »Was machen Sie eigentlich hier?«
Er schwieg, rauchte. »Und Sie?«
»Typisch. Sie sind vorsichtig wie … na, wie ein Lektor eben. – Ich habe an das alles mal geglaubt. Die bessere Gesellschaftsordnung … Aber mit denen?« Sie deutete vage über die Schulter zurück. Meno schob seine Ohren vor, worüber sie lächeln mußte. »Ach, wennschon! Die
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