Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
schade , so verkannt zu werden.« Damit wandte Eschschloraque sich ab und begann, für Philipp Londoner und sich den Longdrink »Sanfter Engel« zu mixen: ein Teil Curaçao, ein Teil Sekt, ein Teil Orangensaft; Karlheinz Schubert goß sich ein Glas Wodka ein, »Sto Gramm«,murmelte »Nasdarowje« und kippte es in wenigen, kauenden Schlucken. Der Alte vom Berge meinte, das werde ihm schlecht bekommen auf nüchternen Magen, aber der Stellvertreter verzog nur das Gesicht und schenkte sich ein zweites Glas ein. Barsano gab dem Schaltpult einen Tritt, dieses Ding habe ihm der Arbogast installiert, es funktioniere immer schlechter; er habe völlig vergessen, welcher Knopf für den Filmvorführer sei, aber der stand schon in der Tür und wartete auf Barsanos Wünsche. Die Kascha roch und schmeckte nach Dübelmasse, nur der Alte vom Berge war noch nicht fertig, als Barsano persönlich reihum ging und Wodka einschenkte, den er mit Pfeffer, Ingwer und Muskat, ein wenig Zucker und Zimt, gewürzt hatte, die »Ziehharmonika«-Mischung, die Meno von vergangenen Besuchen in leidvoller Erinnerung hatte. Barsano grinste, als er Meno das Glas randvoll einschenkte. »Hockst zuviel hinterm Schreibtisch, Genosse! Verträgst nichts! Na, will dir mal ordentlich einen ausgeben! Deine Mutter hat was vertragen, Revolutionärin von echtem Schrot und Korn. So, trink mal aus, dann wirste herrliches … Dings erblicken.« Herrliches »Dings« zu erblicken verspürte Meno wenig Lust, beim letzten Empfang war das ein Porzellan-Oval in Barsanos persönlicher Toilette gewesen; immerhin hatte Meno dort bemerkt, daß der Bezirkssekretär ein großer Fan der »Digedags«- und »Abrafax«-Serie sein mußte, die in voluminösen Stapeln auf einem Vorsprung inmitten des auf die Kacheln glasierten Panoramas »Unsere Welt von morgen« lagen: Blonde Kinder saßen auf den Armen prallbusiger Traktoristinnen und winkten ihren Vätern zu, die in Düsenflugzeugen über den wolkenlosen Himmel jagten; links ein Labor voller Mikroskope und Reagenzgläser, über die sich strahlendweiß bekittelte Forscherpersönlichkeiten beugten; Magnetschwebebahnen, eine unterirdische Hühnerfarm, Mehretagen-Hochstraßen, über die futuristische Autos glitten; Wüsten und Steppen wurden von Kanälen in blühende Landschaften verwandelt; an der rechten Wand sah man Sternenstädte auf fernen Planeten, umschwebt von Raumschiffen und Naherholungsinseln unter Glas; und auf dem Fußboden stand, im russischen Original, ein Lenin-Zitat: »Träumen wir also! aber unter der Bedingung, ernsthaft an unseren Traum zu glauben, das wirkliche Leben aufs genaueste zubeobachten, unsere Beobachtungen mit unserem Traum zu verbinden, unsere Phantasie gewissenhaft zu verwirklichen! Träumen ist notwendig … WLADIMIR ILJITSCH LENIN«.
    »Wir trinken auf die Große Sozialistische Oktoberrevolution!« rief Barsano und hob das Glas. Schubert und Paul Schade brachten »Gorki, gorki« aus, wie es in der Sowjetunion üblich war – »bitter, bitter – und tranken ihre Gläser leer / als ob es reines Wasser wär«. Auch Judith Schevola schien die »Ziehharmonika« nichts auszumachen. Meno hatte sich nach dem Einschenken schnell vor den Schrank mit Geschenken befreundeter Regierungsdelegationen gestellt, dort gab es einen Teppich der Militärakademie Frunse, auf dem unter gekreuzten Kalaschnikows die Köpfe von Marx, Engels und Lenin mit winzig kleinen Glasperlen gestickt waren; einen Moskauer Fernsehturm aus Malachit; ein bulgarisches Weinfaß, das von Jungen Kommunisten aus halben Wäscheklammern geklebt war, mit eingebrannter Folklore; und einen »Pokal der Völkerfreundschaft« in Form einer Messingamphore, aus Griechenland: dies war Menos Ziel; er wollte nicht noch einmal mit dem Porzellanzentrum Unserer Welt von morgen Bekanntschaft schließen; er täuschte einen Hustenanfall vor, als er seine »Ziehharmonika« in die Völkerfreundschaft goß; es plätscherte darin. »Wir trinken auf das Andenken unseres großen Genossen Wladimir Iljitsch Lenin!« – »… auf das Wohl unseres Genossen Juri Wladimirowitsch Andropow!« – »… auf das Wohl der Partei!« – »… die Weltrevolution!«
    Judith Schevola schwankte nicht einmal, als all die Toasts beendet waren. Paul Schade klopfte ihr anerkennend auf die Schulter: »Prachtmädel! Mit dir werd’ ich noch ein Tänzchen wagen!«, und Schiffner, der selig lächelte, tätschelte ihr die Wange.
    Inzwischen hatte Ritschel seine Arbeit im Kinosaal beendet. Der

Weitere Kostenlose Bücher