Der Turm
Müßte Anne wissen. Aber was wissen Geschwister voneinander. Was weiß ich von Hans? Was er von mir? Vielleichtist Meno ein Schwerenöter? Aber stille Wasser sind manchmal einfach nur still.
»Obergärige und untergärige Typen? Solche, die dunkles Bier bevorzugen – und solche, die lieber helles trinken?« – Vielleicht versucht er etwas. Vielleicht versucht er herauszufinden, wie weit er gehen kann. Er hat gesagt, daß sie Klinikinterna von ihm wissen wollen. Er hat nicht gesagt, daß sie etwas über seine Verwandten wissen wollen, und wenn er es uns verschwiegen hat, hätte seine Offenbarung uns gegenüber keinen Sinn. Oder doch? Wenn er nun doch unter uns einen Spitzel vermutet? Hält mich für dubios. Ulrich auch. Genosse, Kombinatsdirektor, und wir beide in Moskau geboren, Kinder von Kommunisten. Er will sich sagen können, daß er alles getan hat, was gefahrlos möglich war. Er will, daß auch wir etwas gewußt haben.
»Wernesgrüner wird von Künstlern getrunken und von Menschen, die nicht das Zentrale, Akzeptierte, Populäre wirklich schätzen, sondern Mißtrauen bewahrt haben: Kann etwas, das allgemein anerkannt und von der Allgemeinheit in den Mittelpunkt gerückt wird, wie bei den Bieren eben das Radeberger, wirklich das Beste von allem sein? Wernesgrün-Typen suchen das Verborgene, sie suchen die Graue Eminenz. Oft sind sie selber Graue Eminenzen – oder glauben es zu sein. Musikalisch gesprochen sind die Wernesgrün-Typen die, die den Berliner Philharmonikern mißtrauen und die Wiener an die erste Stelle setzen. Niklas gehört zu den Wernesgrünern. Sie glauben auch an Verschwörungen. Und die Wernesgrüner würden immer eine Erzgebirgslandschaft jeder noch so exotischen Ferne vorziehen. Jedenfalls nachdem sie diese Ferne gesehen haben.« Richard prostete Meno zu. »Das Land der stillen Farben. Das lieben sie. Geht mir aber genauso, da brauche ich nur die Querners anzusehen. Obwohl ich zu den Radebergern gehöre.«
»Also ich bevorzuge die Staatskapelle.« Meno trank sein Glas aus. Das Bier schmeckte brunnig und war kalt wie ein alter Schlüssel. »Der Amethyst macht sich gut vor den Insel-Bänden. – Mineralisch gesprochen würden sich die Radeberger also an Diamanten halten, die Wernesgrüner dagegen an Smaragde?«
»Weil sie im stillen glauben, eigentlich seien Smaragde das Eigentliche«, pflichtete Richard bei. – Ulrich und Meno sind imGrunde rote Socken. Was mich nur wundert, ist, daß Anne davon völlig frei ist. Oder zu sein scheint. Was wissen Geschwister voneinander. Was wissen Eheleute voneinander. Bißchen weltfremd, der Schwager, mit seinen Insektenforschungen und seinen Schreibereien, die er nie jemandem zeigt. Kann also nichts taugen, sonst würde er’s ja mal vorlesen, sollen doch alle eitel sein, die Autoren. Hockt im Verlag über beschriebenem und bedrucktem Papier, und ob sie das Komma nun so oder so setzen, was ändert’s. Aber jeder ist gemacht, wie er gemacht ist. »Du sag mal, Meno, was ich dich schon lange fragen wollte, du kennst doch den Faun-Palast, da gibt’s im Vestibül eine Pflanze, ich nenne sie Schlangenpflanze, weil sie gebänderte Blätter hat. Weißt du, wie sie wirklich heißt?«
»Ob’s Christian gutgeht, was meinst du? Ich habe ihm geschrieben, aber er hat noch nicht geantwortet … die könnten mich übrigens auch ziehen. Mein letzter Reservistendienst war vor knapp drei Jahren.« – Richard mit seinen Einschätzungen. Die Praxis obsiegt, und die Theoretiker sind Krüppel, die das Leben und die Welt nicht kennen. Dabei stehen wir alle mit beiden Beinen in Träumen … Was er sagt, ist doch, daß die Wernesgrüner nicht wirklich zählen. So ein Unsinn. Und nur, weil Ärzte wichtig sind. Halbgötter in Weiß, pah! Sie machen Menschen gesund … und wennschon. Wenn einer als Kranker ein Dummkopf war, ist er es als Gesunder auch. Und wenn ich nun plötzlich Radeberger trinke, was dann? »Habt ihr vielleicht ein Felsenkeller-Bier?«
»Das Wehrlager muß er durchhalten, das haben wir ihm gesagt. Wir können ihn da nicht raushalten, und wenn er den Studienplatz will, wird er sich die zwei Wochen zusammenreißen können«, sagte Richard.
»Es könnte eine Vriesea splendens sein, eine Bromeliacee«, sagte Meno.
Eines Abends in der zweiten Wehrlager-Woche las Christian ein Buch, eine in die »Junge Welt« geschlagene Lebensbeschreibung, Fraktur auf fleckigem Holzschliffpapier; jemand rief »Achtung!«, Schemel rückten, und noch ehe Christian reagieren
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