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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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konnte, wurde ihm das Buch aus der Hand gerissen. Christian starrte in Hantschs triumphierendes Gesicht. Er wollte vom Bettspringen und ihm das Buch wieder wegnehmen, konnte sich aber nicht bewegen. Das Buch hieß »Mein Weg nach Scapa Flow«, Verfasser war der U-Boot-Kommandant Günther Prien. Natürlich schlug Hantsch sofort das letzte Foto auf: Hitler überreicht Prien das Ritterkreuz; Hantsch schlug das Buch wieder zu, hielt es hoch: »Von wem haben Sie das?«
    Christian sagte nichts, obwohl ihm die Angst bis zum Hals stieg. Er hatte einen schweren Fehler begangen, dieses Buch zu lesen, noch dazu hier, und er wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können bis zu dem Moment, in dem Siegbert es ihm gab, und nicht Ja zu sagen, es abzulehnen aus dem mulmigen Gefühl, das er gehabt und auf das er nicht gehört hatte.
    »Von wem Sie diese Schwarte haben, frage ich Sie!« Hantsch trat auf den Flur und rief die Schüler in den Raum, die draußen Stiefel putzten.
    Christian schwieg. Siegbert stand blaß neben der Tür, sagte nichts, wich Blicken aus; Hantsch sagte so leise, daß Christian dachte, daß er vielleicht träume und die Klassenkameraden sich in wenigen Sekunden auflösen würden wie ein Spuk: »Es ist also Ihres, wie ich Ihrem Schweigen entnehme. Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Hoffmann. Sie lesen Nazi-Literatur, Sie … ein Abiturient. Ein Abiturient an einer sozialistischen EOS. Das habe ich noch nicht erlebt. – Sie alle hier«, er beschrieb einen Bogen durch den Raum, »sind Zeugen für diesen Vorfall. Es wird eine Untersuchung geben. Diesmal kommen Sie mir nicht davon, Hoffmann. Sie beide«, er bestimmte Siegbert und Jens, »passen auf, daß Hoffmann nicht abhaut oder sonst irgendwie verrückt spielt. Ich werde dem Kommandeur Meldung machen.«

    »Herr Hoffmann? – Frank, Christians Klassenlehrer. Kann ich Sie sprechen? – Privat. Es geht um Ihren Jungen, es ist etwas vorgefallen.«
    Frank hatte in der Klinik angerufen, auf Station; Richard setzte sich. »Was?«
    »Am Telefon war die Rede von einem Hitler-Buch, das er gelesen hat. Ich habe versucht, mit meinem Kollegen zu sprechen, der in Schirgiswalde ist, aber sie sind noch beim Kommandeur. Es ist eine Untersuchung eingeleitet worden.«
    Richard hörte zu, wie Frank etwas vorschlug, registrierte aber erst nach einigen Sekunden, daß er nach Waldbrunn kommen, Frank abholen und mit ihm nach Schirgiswalde fahren solle.
    Er rief Anne auf der Arbeit an, erreichte sie nicht. Er rief zu Hause an: Robert nahm ab, Richard legte sofort wieder auf, er hatte sich nicht überlegt, ob es klug wäre, dem Jungen etwas zu sagen, damit er es wiederum Anne sagte; er hatte spontan nach dem Hörer gegriffen, jetzt kamen ihm Zweifel, ob es richtig war, Anne einzuweihen, vielleicht würde sie durchdrehen; dann sah er sie vor sich, und dann meinte eine andere Stimme in ihm, daß er sie unbedingt erreichen mußte, es wäre besser, wenn sie mitkäme; er sah hoch, die Schwestern musterten ihn, und er dachte: Wo ist denn deine Entscheidungssicherheit hin, Chirurg; dann rief er noch einmal zu Hause an: »Hör gut zu, Robert, was ich sage«, und erzählte ihm, daß er mit Christians Klassenlehrer nach Schirgiswalde fahre, »sag Anne Bescheid. Ich rufe an, sobald ich Genaueres weiß.«
    In Waldbrunn wartete Frank schon; er berichtete ihm, daß Stabenow inzwischen angerufen und ihm Einzelheiten erzählt habe; kein Hitler-Buch, aber eines aus der Hitler-Zeit; er halte das für eine ernste Sache. Richard fuhr wie ein Irrer, verfuhr sich in Schirgiswalde, die Einwohner reagierten nicht auf ihre Fragen nach dem Wehrlager; erst ein VP-Streifenwagen, den sie mit Winken und Hupen anhielten, zeigte ihnen den Weg, nicht ohne zuvor um Richards Fahrerlaubnis und einen Alkoholtest zu bitten; jetzt hätte Richard Anne gern dabeigehabt, denn er fühlte sich imstande, die beiden Polizisten totzuschlagen; Frank wiegelte ab, zeigte einen Ausweis, der auf die beiden aber keinen Eindruck machte.

    Christian sah seinen Vater nach Dr. Frank aus Major Volicks Zimmer treten, das kurzgeschnittene sandfarbene Haar, in dem es kaum graue Strähnen gab, trug noch die Einschnürung durch die OP-Haube, die dunkelblauen Augen sahen ihn nicht an.
    »Komm mit«, sagte Richard nur. Sie gingen nach draußen. Auf dem Appellplatz wehten die Fahnen im Wind. Ein Zug Kreuzschüler übte Stechschritt. Christian beobachtete seinen Vater, plötzlich kam die Angst zurück, die er bei dem Verhör durch Volick und

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