Der Turm
Hantsch nicht gehabt hatte. »Da hast du wasangestellt, Junge«, sagte Richard müde, er drehte sich zum Tor, wo zwei Wachen einige Schüler zur Lagerstraße passieren ließen, lallend und lachend schlenderten sie in Richtung der Unterkunftsbaracken.
»Ausgang gehabt«, sagte Richard, nickte zu ihnen hin.
»Sie waren in Wilthen, wo der Weinbrand herkommt.« Hätten ihn Anne und Richard an einem normalen Tag besucht, hätte Christian sich für die betrunkenen Schüler geschämt, jetzt empfand er nichts als Gleichgültigkeit.
»Haben wir dir nicht gesagt, daß du keinen Blödsinn machen sollst?«
Christian duckte sich, machte sich klein, zog Kopf und Arme an den Körper; er war entschlossen, nichts zu sagen. Richard hob die Arme, erwähnte Herrn Orré, das sei wohl sinnlos gewesen, pure Zeitverschwendung; er ließ die Arme fallen. »Junge – wie konntest du nur … du weißt doch ganz genau, wo du hier bist.« »Ja.«
»Und? Warum hast du’s gemacht? Mensch, in dem Buch ist eine Hakenkreuzfahne drin! Ich frage mich –« Richard griff sich an den Kopf. »Ich habe so ein Buch noch nie bei dir gesehen, aber was heißt das schon. Woher hast du das?« Er schien sich an diese Hoffnung zu klammern, griff plötzlich Christians Schultern, schüttelte ihn. »Woher? Von Lange, diesem alten Narren? Hat es dir jemand anderes geborgt? Du kannst doch nicht so blöd sein. Kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
Christian schwieg, duckte sich noch mehr in sich zusammen. »Und wir können dich jetzt wieder raushauen. Seht zu, wie ihr die Suppe, die ich eingebrockt habe, wieder auslöffelt. Du bist nicht nur blöd, du bist auch ein Egoist. Was denkst du, was Anne dazu sagt? Sie weiß es noch nicht, oder vielleicht sagt es ihr Robert gerade. Hast du dir das überlegt? – Natürlich nicht. Mein Sohn überlegt nicht, er handelt, ohne zu denken. Weißt du überhaupt, was das hier bedeutet?« Richard schüttelte Christian wieder. »Nein, weißt du nicht. Die haben von Militärstaatsanwalt geredet, vom Jugendrichter. Die sind der Meinung, daß wir dich nicht richtig erziehen, und daß deine Erziehung angemessener in einem Jugendwerkhof erfolgen kann. Dein Klassenlehrer hat sie so weit bekommen, daß dein Fallinnerhalb der Schule bleibt. Es wird ein Lehrerkollegium einberufen werden.«
»Ja«, sagte Christian mit tonloser Stimme, er mußte sich festhalten.
»Junge, jetzt hörst du mir genau zu. Wir müssen uns eine Strategie überlegen. Du sagst, daß du dieses Buch gelesen hast, weil du die Denkweise von Faschisten kennenlernen wolltest. Weil du verstehen wolltest, wie Hitlers Machtergreifung möglich war. Du hast dir darüber Informationen erhofft. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Hast du schon was anderes gesagt?«
»Nein.«
»Wollten sie schon Gründe wissen?«
»Nein.«
»Gut. Diese Version erzählst du. Und du bleibst dabei, egal, womit sie dich ködern wollen. Sie wollen bestimmt versuchen, dir was in die Schuhe zu schieben. Du argumentierst Rotfront. Hast du verstanden? – Ob du verstanden hast!«
34.
Die Askanische Insel
Relegation ja: Schnürchel, Kosinke, Schanzler, die beiden Direktoren: Engelmann und Fahner. Relegation nein: Frank, Uhl, Kolb, Stabenow, Baumann. Fünf gegen fünf. Christians Angelegenheit kam vor den Kreisschulrat.
»Hast du was über ihn rausbekommen?« fragte Ulrich, als Barbara, Anne, Meno und Richard sich vor der Abfahrt nach Waldbrunn trafen. Es war ein Sonnabend. Christians Großvater wollte mit dem Bus von Glashütte kommen, er kannte den Kreisschulrat, der ebenfalls aus Glashütte stammte.
»Er baut ein Haus«, antwortete Richard.
»Gut. Dann wird er, erstens, Materialprobleme haben und, zweitens, Ärger mit den Handwerkern. Noch was?« Ulrich war im Sonntagsanzug erschienen, mit dem »Bonbon«, dem Parteiabzeichen, im Knopfloch; Barbara war bei Wiener gewesen undtrug ein extravagantes weißes Kleid mit großen schwarzen Blumen darauf. Nach dem Termin beim Kreisschulrat wollte man die Zusammenkunft nutzen und essen gehen.
»Er fährt einen Saporoshez.«
»Dann wird er Termine in einer Werkstatt brauchen – und Ersatzteile jede Menge. Noch was?«
»Er ist vierundsechzig Jahre alt.«
»Also geht er spätestens nächstes Jahr in Rente. Das bedeutet, erstens, er hat keine Lust, sich noch einen schwierigen Fall aufzuhalsen. Er wird es kurz machen und sich absichern wollen. Wahrscheinlich wird er Christians Sache nach oben weiterreichen. Negativ. Das bedeutet, zweitens, daß er um
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