Der Turm
Norwegen der Telemarkschwünge und des Kristianiabogens, die Loipen Oberwiesenthals und Oberhofs, wo Kitty im Leichtsinn noch jungen Rentnerdaseins und mit der Tapferkeit einer Voltigierreiterin vom Zirkus Sarrasani heimlich von der Schanze gesprungen war.
Meno saß abends im Tausendaugenhaus im Mantel an der Schreibmaschine oder am Mikroskop, trug Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen, tüftelte an Gutachten und an Judith Schevolas Prosa, studierte zoologische Präparate, die ihm Arbogast geliehen hatte. Im Land schien etwas vorzugehen, die Starre und Trägheit war nur noch eine dünne Schicht, unter der sich etwas regte, ein Embryo mit noch unscharfen Konturen, der in der Gebärmutter aus Gewohnheit, Resignation, Ratlosigkeit reifte, manchmal schienen die Menschen die Fruchtbewegungen zu spüren, die Schwangerschaft der Straßen, der rauchverhangenen Tage. Angeregt von Ulrich hatte Meno begonnen, Bücher über Ökonomie zu lesen, eine Materie, die ihn nie sonderlich interessiert hatte und deren zahlenklirrende Exaktheit, mathematische Profile und scheinbar unumstößliche Selbstgewißheit ihn ebenso abstießen wie die Nüchternheit, mit derMenschliches, also Fehlbarkeit, Verliebtheit und Inkonsequenz, auf das sternenkalte Reißbrett der Naturgesetze gespannt wurden. Aber er begann etwas zu ahnen … Die Furcht der Menschen, daß diese kristalline Wissenschaft, ihre Axiome, gegen die sich das hiesige Gesellschaftssystem seit fünfunddreißig Jahren stemmte, recht behalten könnte … Die Pro-Kopf-Kohlenzuteilung war gekürzt worden. Meno als Junggeselle, der nur Bücher zum Bestechen bieten konnte (die Autoersatzteile mußten für dunklere Zeiten aufgehoben werden), hatte bei Hauschild schlechte Karten. Man konnte auch nicht zu einem anderen Kohlenhändler gehen, um dort fehlende Zentner zu kaufen: die Händler arbeiteten nach dem Stadtteilsystem und verfügten über Listen der dort gemeldeten Einwohner. Meno heizte mit Holz, das Ingenieur Stahl und er im Wald illegal geschlagen hatten; sie machten sich strafbar, aber Stahl sagte, das sei ihm gleichgültig – wenn es der Staat nicht fertigbringe, seinen Kindern Heizmaterial zur Verfügung zu stellen, müsse eben er, Gerhart Stahl, sich selbst bedienen. Die Kaminski-Zwillinge bemerkten diese Waldgänge, warteten, die Hände in den Hosentaschen, im Flur und fragten, ob sie sich ebenfalls nützlich machen könnten. Stahl blieb mißtrauisch, aber vier Hände und vier Ohren mehr konnte man gut brauchen. Förster Busse und sein Hund bekamen ein schweres Amt, denn natürlich wurde der große, mit einer Plane bedeckte Schlitten, mit dem die Männer aus dem Tausendaugenhaus ihre Beute transportierten, auch in der Dunkelheit von nachdenklichen Augen bemerkt.
Am Silvestertag des Jahres 1984 kam eine Inspektion von der Kommunalen Wohnungsverwaltung. Sie stellte fest, daß Meno Rohde und die Langes pro Kopf zu viele Quadratmeter bewohnten und Stahls Menos Schlafzimmer unrechtmäßig für ihren Jungen Martin beanspruchten. Aus dem Schlafzimmer, der Kajüte und dem flurseitig gelegenen Arbeitszimmer Alois Langes wurde, mit Recht auf Benutzung des Lange- und Rohdeschen Bades, eine neue Wohnung gebildet, deren einzelne Zimmer im ganzen Haus verstreut lagen. Im Souterrain, neben dem Waschhaus, befand sich die ehemalige Mägdeküche (in der Libussa Obst einzuwecken pflegte), auch sie wurde der neuen Wohnung zugeschlagen. Alle Proteste Stahls, Langes und Menos nütztennichts, die Kommunale Wohnungsverwaltung ließ nicht mit sich reden, verwies auf ihr Zuweisungsrecht. Anfang Januar zog ein Ehepaar in mittleren Jahren ein, das den Hausfrieden noch stärker erschütterte, als es die Kaminski-Zwillinge mit ihrem ungebetenen Erscheinen im Wintergarten getan hatten.
Mitte Januar erhielt Regine einen Brief von der Kohleninsel. In dürren Worten teilte man ihr mit, daß ihr Ausreisegesuch abschlägig beschieden worden sei.
»Was willst du tun?« fragte Anne. Man war bei Niklas zusammengekommen, um die Lage zu beraten.
»Ich habe bisher alle vierzehn Tage meinen Antrag erneuert, das gedenke ich auch weiterhin zu tun.«
»Dann machst du dich strafbar«, sagte Richard. »Ich habe mit Rechtsanwalt Sperber gesprochen, der dir dringend von weiteren Antragstellungen abrät. Du bist abschlägig beschieden worden, und sie können dich verhaften, wenn du wiederkommst.« »Schweinebande«, sagte Niklas.
»Aber wie soll es denn dann weitergehen?« Regine bedeckte das Gesicht mit den
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