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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Einer von ihnen forderte Ruden heraus. Ruden war gut, aber nicht so gut wie der Russe. Er brachte den deutschen Parny Nahkampftricks aus Afghanistan bei. Wie man als Aufklärer einen Posten mit dem Messer abmurkst. Christian übersetzte. Für »abmurksen« wußte er dasWort nicht. Wie man eine Siedlung »plattmacht«, aber die Frauen möglichst verschont. Für »ficken« genügte eine Geste.
    Mit ihr reden.
    Sie sangen gut, und dann waren alle schlechten Worte, der Schmutz auf einmal wie weggeblasen. Viele von ihnen konnten ellenlang Puschkin rezitieren; danach wurde es gefährlich; einmal jagte einer ein Fla-MG-Magazin in gestapelte Munitionskisten. Den Waldbrand nach der Explosion konnten die Soldaten nur eindämmen, weil sie sich auf die Panzer schwangen und breite Schneisen um die fackelnden Kiefern walzten. Von einem Zeltplatz in der Nähe, an einem See gelegen, hörte man nachts, wenn der Wind ruhte oder günstig stand, Gespräche, dann Gelächter, dann Beischlafgeräusche. Muska sagte, er würde sich schon zutrauen, paar Kirschen aufzureißen. Die anderen sagten, er solle das Maul halten, man höre ja nichts. »Daß mir hier keiner wichst, ihr gottverdammten Schweinehunde!« brüllte Ruden, der die Wache aufzog.
    Ruden. Der Altphilologie studieren wollte. Der Nietzsche kannte. Gelobt sei, was hart macht. Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Ruden hatte eine Freundin, die ihn im Sommer 85 verließ. Da stand er vor dem Foto am »persönlichen Fach« seines Spinds, der große bullige Entlassungskandidat, Feldwebel, Besitzer des goldenen Sportabzeichens und diverser Schießauszeichnungen, hielt den Brief in der Hand und sagte nichts. Er wollte auf Urlaub, eine Übung stand an, den Urlaub strich ihm der Kompaniechef. Ruden schrie ein bißchen herum, auf dem Flur. Der Kompaniechef blieb kühl. Ruden vor den Augen der Soldaten rundzumachen hätte bedeutet, daß den EK sofort die Schraubenschlüssel aus der Hand gefallen wären: adé, Note 1 im sozialistischen Wettbewerb. Ruden las Caesar und Xenophon, Schlachtbeschreibungen. »Wie heißt du?« fragte er Christian bei der »Taufe«.
    »Christian Hoffmann, Genosse Feldwebel.«
    »Nein. Du bist Niemand. Also Nemo. Ab jetzt heißt du Nemo.« Die Fahrer hatten für ihre Ohrlis Schnitten geschmiert: auf einer war Mostrich, auf einer war Schuhcreme, auf Burres war Kot. Sie hielten ihn fest, als er nicht essen wollte, und schoben ihm das mit Kot beschmierte Brot in den Mund. »Friß Scheiße! Dubist beim Barras, Kamerad.« Sie tauften ihn Nutella, nach dem West-Brotaufstrich.
    »Taufe«: Irrgang war Wasserträger . Er bekam einen Teelöffel. Ein voller Wassereimer stand im Erdgeschoß des Bataillons, ein leerer im dritten Stock, in der Stabskompanie.
    Christian kam erst nachts an die Reihe, als er schon schlief. Er wurde in seine Bettdecke geschnürt, in den Park geschleppt und vor einen Panzer gelegt. Popov ließ den Motor an und rollte über den bewegungsunfähig liegenden Christian hinweg. Er sah, wie sich die Wanne über ihn wälzte, sah Schrauben, die Notausstiegsklappe. Das Spiel hieß Hot dog . Dann befreite ihn Rogalla, reichte ihm eine Feldflasche. »Trink, Kamerad, wir mußten alle durch. Ruden haben sie den Kompanieflur lecken lassen und ihm mal fast ’n Auge ausgeschlagen. Und bei mir war Pisse in der Flasche. Ach, übrigens, frisches Bettzeug gibt’s in vierzehn Tagen.«
    Mit ihr reden.
    Lars Dieritz, genannt Costa, die Rippe, war der traurigste Vize, den Christian kannte. Er war erbarmungswürdig dünn, wie ein Vogeljunges, aber zäh und ausdauernd, nur Christian nahm es beim 3000-Meter-Lauf mit ihm auf. Costa, die Rippe, hatte alle Rechte seines Standes, aber niemand von den höheren Diensthalbjahren achtete ihn. »Du bist ein Weichei«, sagte Ruden, »du bist kein Krieger, sondern ein Muttersöhnchen. Und so was bei der Kavallerie! Wir sind die Garde der Armee! Würde dir Beine machen, wenn du jünger wärst.«
    »Ach, halt die Klappe.« Costa wollte es einfach nur hinter sich haben, wollte einfach nur nach Hause. Rudens und Rogallas Prahlereien, ihr Muskelprotzertum widerten ihn an, für das Heldenspielen hatte er nichts übrig.
    »Warum hast du dich dann für drei Jahre verpflichtet? Nemo macht’s für sein Studium, ich genauso. Aber du? Keiner hat dich gezwungen.«
    »Hab’ Versprechungen geglaubt. Hatte für den Staat was übrig, stell dir vor. Und Null Sicht, wie beschissen es hier ist.«
    »He, Rogi, wenn wir weg sind, bricht alles zusammen.

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