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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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er über das Bein eines Funktionärs gestolpert. Bröckelnder Backstein, zernagte Dächer. Die Sonne war grau, in feuchte Kehrichtwolken gehüllt, stand flach über dem Sund. Sie stellten die Autos auf einen Parkplatz, ließen Menos Gepäck aber noch verstaut. Er würde allein weiterreisen. Bis zur Abfahrt der Fähre nach Hiddensee blieben einige Stunden. Gudrun schlug einen Stadtbummel vor; Anne und Niklas wollten die Kirchen besichtigen; Christian, Robert, Richard hatten Hunger; Meno wollte ins Meeresmuseum. Der Marktplatz lag bauchoben wie ein toter Fisch, glänzte in der fettigen, von Küchendünsten gesäuerten Luft; vom Licht waren nur bräunliche Schlacken übriggeblieben, die an den Häusern wie Zahnsteinspuren hafteten. Die wenigen Menschen auf dem Marktplatz, der das Zentrum der Stadt nicht mehr zu sein schien, verschwanden hastig und geduckt, als würden sie verfolgt, in den Seitengassen. Das Rathaus mit seinem gotischen langspitzigen Giebel wirkte klirrend fremd; Schwamm und Braunkohlenfraß hatten sich der Stadt bemächtigt. Vor einer Softeisbude stand eine lange Menschenschlange, es gab weißes Vanilleeis zu fünfzig Pfennig in einer Muschelwaffel, zu einer Mark im Waffelkegelstumpf; die Wartenden hatten die blasse, dürftige Haut innerländischer Sommerfrischler vor dem Urlaub. Christian und Robert reihten sich ein. Meno, der in der Stadt zuletzt als Student gewesen war – Jugendherberge, Exkursionen zum Meeresmuseum – wollte sie auf eigene Faust wiedersehen.
    »In zwei Stunden beim Auto!« mahnte Anne, die seinem Orientierungssinn mißtraute.
    In den Seitengassen hoben und senkten sich vergilbte Gardinen. Die Fensterrahmen waren rissig, gesprungenes Glas war mit Schrauben fixiert oder durch Sperrholz ersetzt. Vor einer Fleischerei blieb Meno stehen; zwei Speckseiten und eine Wurst hingen darin, er verstand nicht, weshalb es trotzdem eine Warteschlange vor dem Geschäft gab. Schon als er sich vorbeugte, um durch das Schaufenster zu sehen, in dem über gestapelten Konservendosen das Transparent »Es lebe der Marxismus-Leninismus!« hing, begann ein Frau zu zetern, er solle sichgefälligst, wie alle anderen auch, hinten anstellen. »Touristen!« hörte er schimpfen, »wohl aus Berlin, was? Hier alles leerkaufen, und dann dicke tun!« – »Verschwinde!«
    Der Weg zum Meeresmuseum war ausgeschildert; Meno ging erst langsamer, als er die Verwünschungen nicht mehr hörte. Er dachte an Judith Schevola. Er hatte sie seit den Vorfällen auf der Jahresvollversammlung nicht mehr gesehen; wahrscheinlich stand sie an irgendeiner Maschine und ging einer Arbeit nach, die sonst niemand tun wollte. Nach dem Ausschluß aus dem Verband würde ihr kaum etwas anderes übrigbleiben. Vielleicht wußte Philipp Genaueres. Immerhin, das Buch war gedruckt worden, im Westen, in Munderlohs Verlag. Gewiß hatten schon einige Schmuggelexemplare ihren Weg durch den Zoll gefunden und kursierten in der Nomenklatura oder, als schulheftähnlich zusammengeklammerte Schreibmaschinen-Auszüge, im Tal der Ahnungslosen. Höhere Parteikreise und wohlgelittene Verbandsfunktionäre hatten solches Versteckspiel nicht nötig, sie bezogen Bücher aus dem Westen ganz legal. Vielleicht besaß Jochen Londoner das Buch und konnte es ihm leihen.
    Sonderbare Idee, ein Meeresmuseum in einem ehemaligen Kloster unterzubringen. Und ebenso sonderbar, daß sie zusammenklangen, das Backsteingemäuer der Katharinen mit den Aquarien, daß strenge Zeichnung, gotischer Silberstift und schweifende Malerei, Spielsinn der Farbe, wirklichkeitsbeschmutzt und nie ganz rein zu haben, so versöhnlich beieinanderwohnten. Vom Gewölbe hing das Skelett eines Finnwals mit schuhförmigem Riesenmaul und armdicken Kiefernbügeln. Kinder, wahrscheinlich aus einem Ferienlager, lärmten unter der schrillstimmigen Aufsicht zweier Erzieherinnen. Das, fand Meno, war das Unangenehme an Naturkundlichen Museen: Immer, sogar in der schulfreien Zeit, wuselten Kinder herum, schrien und kasperten ohne Rücksicht, ohne Sinn für die Faunenstille, schreckten Korallen aus dem Schlaf, brachten selbst aus Kunststoff nachgebildete oder in Formalingläsern vereinsamte Schnecken dazu, ihre Fühler einzuziehen. Warum hielten Menschen die Stille nicht aus? Die Zoologie war eine stille Wissenschaft, er erinnerte sich, während er an präparierten Delphinen und sauerstoffdurchperlten Aquarien vorüberging, an manche Szenen aus seinerStudienzeit in Jena bei Falkenhausen, dem hektischen und

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