Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
schweigsamen Präzeptoren der mitteldeutschen Spinnenwelt, der seinen Vorgänger Haeckel einen Narren, aber einen verdienstvollen, nannte und das Phyletische Museum, das vom Institut betreut wurde, einen Planet Goethe. Kunstformen der Natur . Getrocknete Pflanzen, staubumsponnene Leuchter in Form von Quallen, aus Glas geblasen, Zeichnungen untertassengroßer Kieselalgen, Strahlentierchen, Urnensterne: Ein gestrandetes Königreich versteinerte allmählich.
    Kein Lärm mehr, die Kinder waren fort; außer einem im Stuhl dösenden Museumswächter war niemand zu sehen. Jemand leckte Meno die Hand; im Aquarium, vor dem er stehengeblieben war, erschien das treuherzig hechelnde Gesicht eines schwarzen Hundes.
    »Entschuldigen Sie. Kastschej ist immer noch ungezogen. Es ist schwer, dieser Rasse etwas beizubringen, aber sie sind gute Hüter. Und wen sie einmal ins Herz geschlossen haben … Guten Tag, Herr Rohde.« Arbogast tippte mit dem Greifenstock leicht gegen die Sportmütze. Der Baron wirkte gesund und frisch, sein sonst graues Gesicht, dem die Stahlbrille noch zusätzliche Kühle gab (jetzt trug er eine Brille mit getönten Tropfengläsern, ein westliches Modell), war tief gebräunt. Wo sonst Uhr und Ring saßen, war die Haut hell geblieben. Arbogast bemerkte den Blick, und indem er Meno mit kennerisch-ciceronehafter Geste einlud, weiterzugehen, erklärte er, daß er die Uhr in diesem Jahr, entgegen seiner Gewohnheit, nicht vor dem Urlaub abgelegt habe, ebenso den Ring, den er bei den Tagesgeschäften überhaupt nicht mehr bemerke; allerdings habe er beim Segeln gestört. Gegenwärtig liege sein Schiff im Hafen von Stralsund. Ob Herr Rohde die Sendung Bleistifte – »wie versprochen!« lächelte Arbogast – bekommen habe? »Nein? Dann ist sie noch unterwegs oder hat Sie nicht mehr getroffen. Sie sind ja gewissermaßen aufgerückt, es hat in unserem Institut einige Veränderungen gegeben. Vermutlich wissen Sie das schon von Fräulein Schevola?«
    Meno verneinte.
    »Einige meiner Physiker, darunter Herr Kittwitz, sind von einem Kongreß in München nicht zurückgekehrt. Es gab ziemlichen Wirbel. Ich habe mich für sie verwendet, damit sie fahrenkonnten, doch mißbrauchten sie den Dienst, den ich ihnen erwies. Es gehört eine gewisse Phantasielosigkeit dazu, oder besser: ein gerüttelt Maß an Egoismus, einfach so abzuhauen! Reisen – was ist das schon! Indien wollen sie sehen. In Indien gibt es viel Elend! Und man sollte doch nicht glauben, daß im Westen alles Gold ist, was glänzt.«
    Du hast es nötig, dachte Meno, schwieg aber. Die Nachricht von Kittwitz’ Flucht überraschte ihn, gab ihm auch einen Stich, denn obwohl er dem Physiker nur einmal begegnet war, hatte er das Gefühl eines Verlusts: Die Gleichaltrigen bilden eine Gilde; sie achten aufeinander, auch wenn Jahre vergehen und niemand eine Andeutung macht.
    »Sie werden denken, daß ich Wasser predige und Wein trinke.« Arbogast wies in einen Raum mit Aquarien, die nach Themen angelegt waren, eines hieß »Die Ostsee«, eines »Symbiosen«, eines »Giftige Meerestiere«. Kastschej zog es zum »Hafenbecken«-Aquarium, in dem Lipp- und Butterfische, junge Dorsche mit Unterkiefer-Barten (Meno mußte an Schiffsarzt Langes Ziegenbärtchen denken), Steinbutte und Makrelen Kreise zogen.
    »Ich möchte nicht unhöflich sein; ich für mein Teil würde gern reisen, und ich glaube, mit diesem Wunsch stehe ich nicht allein da. Wie es in der Welt aussieht, möchten viele Menschen sicherlich eher selbst feststellen als stellvertretend festgestellt bekommen.« Meno betrachtete einen dunkelblau getüpfelten Kuckucksrochen, der mit ruhigen Flimmerbewegungen stieg.
    »Natürlich. Wir sind da gar nicht auseinander, lieber Rohde. Die Führung sollte diesen Wünschen nachgeben. Unter vier Augen habe ich das dem Generalsekretär auch geraten. Ich fürchte, daß er gezwungen ist, für diese Empfehlung taub zu sein. Leider. In ihrer Gier würden die Menschen den Westen mit dem Paradies verwechseln und nicht zurückkehren.« Arbogast wies auf einige Seenelken, die farbig irisierten. »Aus unseren Züchtungen! Wir sind auf Messen recht erfolgreich.« Er faßte Meno unter den Arm und ging einige Schritte, wie es ein leutselig gestimmter Landesvater mit jemandem »aus dem einfachen Volk« macht, wenn es politisch opportun und eine Kamera in der Nähe ist. »Das Land würde sich leeren wie vor Anno einundsechzig. Die Zeit, bis die Menschen ihren Irrtum eingesehen hätten, würde

Weitere Kostenlose Bücher