Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Zimmer hatten je zwei Doppelstockbetten übereck, zwei Spinde und ein Waschbecken mit Kaltwasserhahn. Wer duschen wollte, packte Badelatschen ein, nahm den Kulturbeutel und ging durch das Ferienlager der Deutschen Post, zu dem der Saisonarztbungalow gehörte, in die Duschbaracke neben der Großküche, wo man seine Siebensachen unter einen der halbblinden Spiegel im Laufgang hängte und auf gebleichten, fußpilzverdächtigen Lattenrosten in den zum Gang offenen Kabinen, von fröhlichen und schimpfenden Stimmen umgeben, auf warmes Wasser wartete. Hoffmanns fuhren seit 1972 nach Fuhlendorf, Richard teilte sich die Praxis mit Kollegen (lange war Hans dabeigewesen), konnte so seiner Familie begehrte Ostseeurlaube bieten und verdiente ein zusätzliches Monatsgehalt. Nur ein einziges Mal war es der Familie gelungen, einen Ferienplatz zu ergattern, der nicht mit Arbeit für Richard verknüpft war: Born am Darßer Bodden, in einem FDGB-Urlauberheim. Das Essen war schlecht gewesen, noch schlechter das Wetter, der Bodden in jenem Jahr voller Quallen und Tang. Wecken mit Flursirene, unabschaltbares Wand-Radio. Dann schon lieber Fuhlendorf, auch wenn die Bungalow-Betten Roßhaarmatratzen hatten, die von Arzt zu Arzt gewendet wurden, und Stahlfederböden, an deren Widerklammern sich Richard, der unten schlief, beim Aufstehen regelmäßig die Kopfhaut aufriß. Tietzes bezogen das Zimmer 1, Hoffmanns das Zimmer 2. Es ging zur Dorfstraße, und Christian wußte, daß das ein Nachteil sein konnte, denn oft grölten Betrunkene, die vom »Nachtangeln« aus dem Café »Redensee« schräg gegenüber kamen, am Bungalow vorüber, wummerten an die Tür, verlangten Krankenschwestern und Flundern. Vor einigen Jahren war im Morgengrauen ein Soldat der sowjetischen Streitkräfte aufgetaucht, hatte mit vorgehaltener Kalaschnikow das Dienstmotorrad, eine altersschwache Zündapp, gefordert, war schlingernd davongebraust und Stunden später gefesselt, links und rechts von finster blickenden Vorgesetzten gehalten, zur Versorgung diverser Knochenbrüche zurückgebracht worden.
    Fuhlendorf war Christian sofort wieder vertraut. Die Storchennester auf den reetgedeckten Bauernkaten. Derdauerkläffende Spitz im Grundstück nebenan. Der hellblaue Taubenschlag voller schneeweißer Tauben, deren Gegurr und Geflatter Tietzes gegen die Dorfstraßenrisiken wogen. Das Ferienlager mit den Dutzenden in die Tiefe gestaffelten Bungalows, aus denen Kindergesichter blickten. Die schotterbestreuten, mit weißgestrichenen Steinen gefaßten Wege, erhellt von geschweißten Fliegenpilz-Lampen. Sechs Uhr Wecken per Morgengruß aus den Lager-Lautsprechern. Einmal wöchentlich Sirenenprobe. Appelle, Besteckklappern zu vorgeschriebenen Zeiten in der Lager-Kantine. Sozialistischer Wettbewerb: Wettlauf, Fuß- und Volleyballspiele, Tischtennis auf Betonplatten, die Netze abzuholen gegen Quittung in der Lagerverwaltung. Im Sommerwind flatternde Fahnen.
    Christian hatte Erholungsurlaub, den ersehnten E. U. der Armeeangehörigen. Er sprach wenig. Wonach roch es im Bungalow? Trockene Luft, Anisdrops aus der Verkaufsstelle in der Posturlauber-Kantine, die Rolle zu 24 Pfennig, die Drops immer verklebt. Es roch nach den Toiletten, auf deren Spülkästen Weberknechte hockten. Vita-Cola roch nicht, schmeckte aber, eiskalt temperiert vom brummend arbeitenden Kühlschrank des Aufenthaltsraums. Dort stand wie in den vergangenen dreizehn Jahren der »Junost«-Fernseher mit unabänderlich defekter Antenne, lieferte Fernsehen der DDR 1 und 2 sowie ein Grießbrei-Bild des Zweiten Deutschen Fernsehens, das zusätzlich Militärfunk-Ostseewellen störten. Es roch nach dem Verschalungsholz der Außenwände, dem die Winterwetter zusetzten, nach Florena-Sonnencreme, Sand, Heidekraut: Neben dem Bungalow, abgegrenzt von einem Maschendrahtzaun, ging ein Weg in ein Kiefernwäldchen. Bohnerwachs, Insektenmittel, Medikamente. Essigsaure Tonerde gegen Wespenstiche, Ankerplast-Spray als Pflasterersatz, Panthenol gegen Sonnenbrand, Sepso-Tinktur. Die Glasspritzen klirrten in den emaillierten Nierenschalen, schwitzten im Zylinder-Sterilisator Strepto- und Staphylokokken aus. Holzspatel erregten beim bloßen Anblick Würgreiz. Scheren und Skalpelle schwammen in Desinfektionslösung. Mullbinden, Gothaplast, Gummigeruch: auf der Pritsche die backsteinrote, abwaschbare Unterlage, die Klistierballons, der Tritt der beigefarben gelackten Personenwaage, zum Wiederverwendentrocknende, mit Talkum gepuderte Handschuhe. Es

Weitere Kostenlose Bücher