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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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man ungestört, für sich sein konnte, wenngleich die älteren Dienstjahrgänge dies selbstverständlich wußten, und Muska sich gern einen Spaß daraus machte, an der Tür wie an einer Eskaladierwand hochzuspringen, um nachzusehen, was es dahinter gab.
    Burres Mutter arbeitete im Schichtdienst als Einstellerin im Grüner Metallwerk. Alle zwei Wochen schickte sie ihrem Sohn ein Paket, eine umständliche (denn die Post befand sich am anderen Ende des Städtchens) und teure Umgehung unzuverlässiger Posten am Kontrolldurchlaß, denen sie anfangs die Pakete übergeben hatte – Burre bekam keinen Ausgang, Schlückchen mochte ihn nicht, weil er, wie der Stabsoberfähnrich zu verstehen gegeben hatte, zu denen gehörte, die »die Bilanzen der Kompanie versauen«.
    »Ungerechtigkeit ist die Würze der Welt«, philosophierte Panzerfahrer Popov, betrachtete seine lüftenden, pflegebedürftigen Zehen, schob sich gleichmütig das Käppi über und eine Teigtasche in den Kopf: Die vierte Kompanie war zur Wache eingeteilt, fünf Tage vor Entlassung der Soldaten des dritten und der Unteroffiziere des sechsten Diensthalbjahres. Christian sah Burres Mutter vor Muska, Costa, einigen Fahrern sitzen, die wachfrei hatten; sie sprach stockend, murmelnd, die Ähnlichkeit des Timbres mit dem ihres Sohns (auch Burre hatte diese wie von Schiefern durchsetzte, entfärbte Zwischenlagenstimme), die Ähnlichkeit der Gesichtszüge verwunderte Christian, hatte zugleich etwas Bedrückendes, und während er die MPi Ruden übergab, der sie in einen Waffenschrank schloß, während er Käppi und Koppel ablegte (jedesmal eine kleine Freude), versuchte er sich an etwas zu erinnern, das mit dieser Bedrückung in Zusammenhang stand; doch erst, als er sich durchs geschorene Haar fuhr, fiel es ihm wieder ein: »Die Scheitelwirbel der Hoffmanns«,hatte der Uhren-Großvater gesagt, »mein Vater hatte sie, ich hab’ sie, dein Vater hat sie, und wenn du mal Kinder hast, Christian, wirst du sie ebenso getreulich wiederfinden … vielleicht wirst du bald verstehen, wie komisch und traurig das ist, man lacht und resigniert – Erziehung? ach was« – Christian hatte es behalten, obwohl ihm der Sinn dunkel geblieben war. Burres Mutter hatte sich, wie man sagte, »fein gemacht«, und bald begriff Christian, daß sie gekommen war, um für ihren Sohn zu bitten.
    Ruden schlenderte nach vorn, schwieg; keiner rührte den Umschlag mit dem Geld an. Rogalla erklärte, daß ihn das nichts mehr anginge; Ruden, der wohl etwas hatte sagen wollen, nickte, erleichtert über die Hans-im-Glück-Lösung, die ihn plötzlich und unerwartet entband; er folgte Rogalla, den Löffel mit der grünen Seite nach oben stechend, nach draußen.
    »Das waren die schlimmsten«, sagte Costa, »die gehen in fünf Tagen. Dann hat er das Gröbste überstanden.« Burres Mutter reagierte nicht darauf, sie hatte ihr Kopftuch nicht abgelegt und saß noch im Trenchcoat da, einem jener kittgrauen, mit Knöpfen groß wie Taschenuhren besetzten Stücke, die es, außer olivgrünen und waldbraunen Parkas, in den Läden noch zu kaufen gab, wobei sich die Exemplare für Männer und Frauen einzig dadurch unterschieden (behauptete Barbara), daß bei den Frauen die Knöpfe links, bei den Männern rechts saßen.
    »Haben Sie keine Mutter«, wandte sie sich nach einer Weile an Muska.
    »Nein«, lehnte der ab, »und wenn ich eine hätte, wär’ sie nicht einfach hier reinspaziert mit fünfhundert Mark in ’nem Kuvert.«
    »Sie haben keine Mutter?«
    »Nein, hab’ ich nicht! Ich komm’ aus ’m Heim, wenn Sie verstehen, meine Alte hat sich in die Radieschen gesoffen, und ich bin ihr einfach aufs Schwein gegangen; als ich klein war, hat sie mich mit Rotwein aus ’m Fläschchen bedient! War ich still danach. Aber Sie – schieben hier einfach rein, knallen Geld und schöne Worte auf ’n Tisch: sensibler Junge – meine Herrn, ich bin auch sensibel! Wenn Sie wüßten, wie sensibel ich manchmal bin und wie sehr mir meine Kamraden hier manchmal auf ’n Sack gehn –«
    »Hehehe!«
    »Schnauzeduarsch. – Also, was sagen Sie dazu?«
    Aber Burres Mutter antwortete nicht, denn ihr Sohn war hereingekommen. Er schien zunächst nicht zu verstehen, blickte irritiert von einer Seite des Tisches zur anderen, dann, als er den Umschlag gesehen hatte, wandte er sich abrupt um, senkte den Kopf, wie um zu überlegen, nestelte am Tragegestell mit den Reservemagazin-Taschen und der Feldflasche, die er dort vorschriftswidrig

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