Der Turm
vielleicht nur, indem sie ruht (»schweigt«), ist das andere. Beides interessierte ihn. Er liebte Hände. Hände gehörten zu den Belebungen, bereiteten ihm Freude. Er hatte Hände studiert: die seelilienhafte Weiblichkeit der Botticellifrauenfinger (das waren Finger, aber machten sie nicht die Hände aus?); Hände, die stur von etwas überzeugt waren; Hände, gleichsam verzweifelt über ihre Größe und das unaufhörlich stete Verlassen der Kindheit; gecremte und ungecremte Hände, girrende und moosartig unergründliche Hände; Hände von Gärtnerinnen, in die sich Pflanzensäfte gegerbt, und Heizern, in die sich der Kohlenstaub gefressen hatte unabwaschbar; er hatte die Hände eines Schmetterlingskundlers gesehen (und der hatte sie als kraftlose Narren bezeichnet); die Hände seines Vaters beim Untersuchen einer Uhr: all diese – ihm jetzt geisterhaften – Hände mit dem Spurenelement Zärtlichkeit. Ertaubte Hände, Finger, zerbrechlich wieWachtelknochen, und hatten Städte verändert. Hände von Bäuerinnen, knotig, geflochten aus Härte und Kälte und lebenslanger Schufterei, Querner hatte sie gemalt: sie schienen mehr aus Holz als aus Fleisch zu bestehen, die Finger waren krumm von Gicht und Arthrose und von Schlägen: abgewehrten und ausgeteilten. Dabei fand Richard Hände auch manchmal kurios, die Doppelung schien der Hand etwas von ihrem Wert zu nehmen, an schimmernder Präzision. Warum haben Zyklopen nur ein Auge? Damit es bedrohlicher blickt, damit es ablenkungsloser zugeht. Eine Hand, zwei Hände: um den fremden Leib – oder den Hals – von beiden Seiten zu umfassen, um in Stereo zu liebkosen; zu morden. Bitternislinien. Manche wirkten unruhig vor Unveränderlichkeit. Da, diese Narbe – erinnerst du dich? Auf der Hochzeitsreise, die war, wie die Reisen unserer Jugend eben waren: kurze Entfernungen, für den »Berlin«-Motorroller erreichbar, Rheinsberg und Havel: Äpfel im Gegenlicht, rauh von Nachttau, in den Fenstern Kürbisse, pampelmusengroß, gestreift wie Hosen von Operntürken, manche beigefarben mit grünen Schlacken, manche wie Turbane, die sich plusterten, andere birnenförmig, gelb und dunkelgrün, zwischen den Farben eine scharfgezogene Grenze. Die Panne unterwegs, Anne rutschte mit dem zweiten Schraubenzieher ab.
»Sie haben sich unsteril gemacht, Herr Hoffmann. Ihre Handkante war am Wasserkran.«
Hände zu lesen hatte ihm schon in seiner Assistentenzeit Befriedigung verschafft; eine reibungsstarke, quälende Herausforderung, so mochten es andere sehen, für ihn war es: etwas Verpacktes, das man sorgfältig und freiwillig einkreiste, voller Scheu, es aus den Verhüllungen zu schälen, Furcht vor Nacktheit – aber es war da, pochte leise, begehrte gekannt zu werden. Und niemand hatte einem erklärt, was es bedeutete, in eine Hand zu schneiden (ach, dieses Wort: »begreifen«). Zu schneiden in die Hand der eigenen Frau; fünf Finger, die Schnür-Mazeration dort, wo der Ehering gesessen hatte (die Schwester hatte ihn mit Seife und Seidenfaden entfernen müssen); Daumenballen; die Pulse der beiden Hauptarterien, die jetzt nicht mehr fühlbar waren; der Handteller mit Linien und Kerben und einer Wolke von Aberglauben; blasse, spröd wirkende Nägel: so daß die Hand auf dengrünen Tüchern lag wie ein betäubtes, zu sezierendes Hermelin. Niemand hatte einem erklärt, wie man mit der Unwiderruflichkeit fertig wurde, der Abwesenheit von Ironie im Moment des Schnitts: Hier bin ich, schien die Hand zu sagen, es gibt kein Zurück, und ich muß dir vertrauen. Mach mich also gesund. Was du kannst, muß dafür genügen. Natürlich gab es Routine, aber es blieb immer etwas Lauerndes, immer die Ahnung, daß es bei diesem Patienten keineswegs so funktionieren (»glattgehen«, dachte Richard, das auftrumpfende Wort der Laien) mußte wie bei dem »ähnlichen Fall« gestern; immer die Furcht, das »Wissen« zu Simsalabim zerfließen zu sehen. Wie bei jeder fensterlosen Arbeit.
Eine Hand, wenn man sie lange genug betrachtete, schien Losungen aus dem Verborgenen zu entlassen – sie standen still, noch unter der Oberfläche, die Unzweideutiges anbot, aber die Umrisse waren schon zu ahnen, waren schon deutend ausfüllbar. Hände taten zumeist ganz Vernünftiges. Morgens banden sie Schuhe, mittags löffelten sie Suppe, abends knackten sie ein Bier und ruhten aus. Das Leben einer Hand bestand aus Ballung und Streckung für vernünftige Gebärden. Richard dachte an eine Patientin, die er vor vielen Jahren
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