Der Turm
gehabt hatte: ein damals fünfzehnjähriges Mädchen, bei einem Unfall waren ihr beide Unterarme abgerissen worden. Eines nachts, er war diensthabender Notarzt gewesen, hatten ihn die Nachbarn gerufen: Sie hatte sich mit Gas vergiftet.
»Ihre Frau wird ambulant bleiben können, denke ich. Erspart uns viel Schriftkram. Möchten Sie selbst operieren?«
Er nickte. Hände erzogen zur Sparsamkeit, wenigstens den Operateur. Es gab keine überschüssige Haut. Wunden konnte man nicht, wie sonst üblich und möglich, großzügig ausschneiden. Mikroskop. Lupenbrille. Das Krankenhaus war vorzüglich ausgestattet. Frau Barsano wußte das, deshalb, dachte Richard, schwieg sie. Die saugende, lechzende Stille beim Operieren. Hochkonzentration; das Bewußtsein, fokussiert und scharf auf den Punkt der Aufmerksamkeit zugeschliffen, setzte Interessens-Körnungen wie ein Diamantbohrer. Dazwischen Zusammensacken, Energieanforderungen, Aufholen, spritzerhafte Ablenkungen. Man konnte eine Weile nachgeben, man überließeine Weile dem Ko-Operateur das rasend langsam über die Situation kriechende, unbarmherzig entkleidende Brennglas, dem die Klinge folgte, ausforschend die Verwundung. Hände kannten ihre eigene Form von Schlummer, aber auch von Ekstase. Sie hing, meinte Richard, meist mit dem Wort »erreichen« zusammen: Nahrung und Leuchtendes, Haut und Schaltpult-Knöpfe, Stille, Beklommenheit und Weissagungen, Dinge, berührbar gemacht durch eine Kinderzeichnung.
»Glas«, sagte Frau Barsano, hob ein Splitterchen.
Annes Hand. Wenn ich das da zerschneide, wird sie dort, in dieser lappenförmigen Zone am Kurzen Daumenbeuger, keine Empfindung mehr verspüren. Verantwortung. Macht. Manchmal genoß er, manchmal fürchtete er diese Macht, die Gedanken, die sie ihm einzublasen schien und die er als eines Arztes unwürdig empfand. Aber sie waren da, dünne, giftige Lippen flüsterten sie, und er mußte einen wertvollen Teil seiner Kräfte aufbringen, sie zurückzudrängen. Ob es wohl anderen Chirurgen auch so ging? Man sprach darüber nicht. Vielleicht aus Angst, als schlechter, unberufener Arzt dazustehen. Der dem Klischee der meisten Patienten vom edlen Menschen im weißen Kittel nicht entsprach. Es kam aber darauf an, was man tat. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Weniger: frei zu sein. Man war frei, das Hilfreiche zu tun. Er betrachtete Annes Hand, sie war verletzt, schmal und deshalb auf eine diskrete Weise bittend; eine Hand, die beharrte Es ist so, eine Festlegung, erschrocken über das Unabänderliche daran und doch im Geheimnis der Würde: Dies ist sie, meine Hand (und mit ihr die Schatten aufzuhalten); Annes Hand: klein von Trauer und Zeit, einzigartig..
Er fühlte sich außerstande, weiterzuoperieren. Rührung, Sentimentalität, Verzweiflung: ein Gemisch, das ihn abstieß, überwältigte ihn. Er bat Frau Barsano, allein weiterzumachen.
Es war noch hell, als sie auf der Wolfsleite vor Sperbers Haus hielten. Erstaunt nahm Richard die rauschsüß halluzinatorischen, drangsallosen Rufe der Amseln wahr, irgendwie egoistisch in ihrer Ruhe, ihrer Selbstsicherheit, dachte er, auch … gnädig. Wie Anne die Hand zur Klingel hob, ohne etwas zu erklären – Richard empfand nun diese Scham, die das Recht aufErklärungen bestreitet –, sie anhob, die verbundene, kaum schon verteidigte Hand, bekam das Weiß des Gipsverbands, aus dem Anne einen Finger komisch (einen harten, vorbohrenden Stiel, schweigend und keck) ragen ließ, um den Knopf absurd lange zu drücken, etwas Ungelehriges, das nicht in den Abend gehörte, obwohl es ihn in verblüffender Nähe durchquerte – jetzt, da Anne den Arm vor einem Ulmenstamm sinken ließ, gewissenhaft langsam, doch lässig –, ein Weiß, das seine Trockenheit ausschmolz und einen anderen Charakter annahm: das ungelehrige, kluge Weiß, das eine Steckdose in der finsteren Baumrinde gehabt hätte. Richard ging auf und ab. Anne bat ihn zu warten, als Frau Sperber öffnete. »Und benimm dich bitte nicht so … theatralisch schlecht. Es dauert eine halbe Stunde, vielleicht eine, je nachdem.« Der Rechtsanwalt winkte von der Haustür, kam Anne mit ausgestreckten Armen, ein ernstes Lächeln aufgesetzt, entgegen (es wirkte nicht einmal unsympathisch, fand Richard), besah ihre Hand, schien zu überlegen, zog das Seidentuch aus der Brusttasche seines Anzugs (es brodelte zitronengelb und atmete auf ), netzte es in einer Regenwassertonne und wusch Anne mit obszöner Sorgfalt die Finger sauber. Dann gingen
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