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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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wie lange hab’ ich mir ’ne sturmfreie Bude gewünscht, und wenn man eine kriegt, dann zusammen mit ’ner Schwester, und man ist bei der Asche. Du rauchst nicht, stimmt’s?«
    »Halbschwester.«
    »Nimm’s nicht so schwer, Bruderherz. It happens. Lucie heißt sie. Hast du sie schon mal gesehen?«
    »Nein.«
    »Na, wie sollst du auch, wo du doch kaum rauskommst. Ich hab’ sie auch noch nicht gesehen. Aber neugierig bin ich auf sie. Echt. Und ehrlich gesagt: Irgendwie freu’ ich mich auch. ’n Schwesterchen hab’ ich mir nämlich schon immer gewünscht.«

66.
Nach dieser Unterbrechung gingen
die Tage . . . dahin
    781 Jahre Dresden: Aufkleber mit dieser Zahl las man 1987 auf den Heckscheiben vieler Autos; oft neben dem »A«, das offiziell für »Anfänger«, inoffiziell aber für »Ausreise« stand. Die Zahl war ein Aufbegehren gegen eine andere: 750 Jahre Berlin, ein Jubiläum, das in großem Stil gefeiert werden sollte, eine Zuckung aus Lebensfreude, Stolz, den niemand mehr glaubte; eine mit allen Kräften vorgenommene Auspressung des müden, siechen Körpers der Republik, um aus den verdorbenen Säften einen Becher Schierling zu keltern, der, in die Adern der Hauptstadt geträufelt, Krankheit zum Leben, Erschöpfung in Hoffnung und Tatkraft verwandeln sollte …
    Judith Schevola arbeitete inzwischen nicht mehr auf dem Tolkewitzer Friedhof, man hatte ihr eine Arbeit im VEB »Kosora« zugewiesen, wo sie als Blauzugkopiererin Broschüren an Alkoholwannen und im »Ormig«-Verfahren abzog. Wenn er konnte, fuhr Meno, auf für ihn selbst unerklärliche Weise angezogen, zu dem Betrieb, und beobachtete sie. Er erkannte sie schon von weitem an ihrer Fledermausmütze, sie kam mit anderen Arbeiterinnen zum Werktor heraus. Sie wankte, suchte Zäune an den Wegen und etwas zum Festhalten auf den Straßen, betrunken von den Alkoholdünsten, die aus den Wannen mit den zu vervielfältigenden Schriften stiegen; Passanten runzelten bei ihrem Anblick die Stirnen, dachten wohl, sie sei eine Säuferin, und als sie einmal in den Matsch fiel, an einem trüben Winterabend, half ihr niemand, bis es Meno, der schon von weitem ihre dumpfen Hilferufe gehört hatte, schließlich gelang, sie aus der Pfütze hochzurappeln. Judith erkannte ihn nicht, wehrte sichtaumelig, niemand achtete auf die beiden schwermütig miteinander kämpfenden Menschen.
    Meno brachte sie nach Hause. Sie lebte in der Neustadt, in einer Hinterhofwohnung, die aus anderthalb Räumen bestand, der Flur von Schrankrücken hergestellt, der halbe Raum endete an einer Mauer; sie teilte die Stuckrosette für den Kronleuchter. Das größere Zimmer querte eine Schraube, an der Zigaretten, ausgeschnittene Gedichte und Strümpfe hingen. Die Schraube hatte ein Feingewinde mit (von Judith gezählten) 5518 Gewindegängen, und hielt, durch Mauerwerk, außen mit Schellen und Hölzern als Gegenspann, die Etage zusammen.
    »Was wollen Sie denn von mir«, nuschelte Judith und ließ sich aufs Bett fallen.
    »Brauchen Sie etwas, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
    »Mir kann keiner helfen. Ah, wie weinerlich … Haben Sie was zu trinken mitgebracht? Schönen Dank fürs Geleit, Herr Lektor, und gehab’ er sich wohl!«
    Sie wurde rasch klarer, Meno wandte sich zum Gehen.
    »Wenn Sie den Waschkrug füllen könnten, in der Küche ist ein Wasserhahn … Sie können auch bleiben, wenn Sie schon mal da sind … Wie Sie wollen. Ich hab’ eine Platte mit indischer Musik, geschrieben für Lebende und Tote, genau das Richtige für Sie und mich. Haben Sie Hunger?«
    »Ja.«
    »Das ist dumm. Hab’ bloß aus Höflichkeit gefragt. Also schlage ich vor: Wir essen zuerst nichts, und danach gehen wir tanzen.« »Ich kann nicht besonders gut tanzen. – Wie geht’s Ihnen? Arbeiten Sie? Schreiben Sie?«
    »Wir wollten so hoch hinaus, und wohin ist es mit uns gekommen«, sagte Judith nach einer Weile.
    »Das ist mir zu sentimental. Sie müssen schreiben, die Zeiten ändern sich, und ich glaube nicht, daß Ihr Ausschluß von langer Dauer sein wird.«
    »Ich will was trinken!«
    »Nein.«
    »Wollen Sie mir verbieten, mich zu besaufen?«
    »Es ändert nichts, und Sie sind keine unreife Göre mehr.«
    »Jawohl, Papa.« Judith Schevola langte unters Bett, fischte einehalbvolle Flasche »Kröver Nacktarsch« vor, trank sie in großen Zügen leer. Sie warf die Flasche in einen Karton neben dem Öfchen, wo sie auf anderem Glas zerbrach. Judith lachte rauh. Dann rollte sie sich auf dem Bett aus wie eine große

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