Der Überläufer: Tweed 3
glauben, daß Sie das nicht befohlen haben?» fragte Newman.
Ohne die Waffe zu beachten, drehte Karlow sich um und schaute dem Engländer gerade ins Gesicht. Seine dunklen Augen blickten fest und mit einem Ausdruck der Resignation.
»Wenn Sie mir nicht glauben, dann drücken Sie doch ab. Bringen Sie es hinter sich. Erschießen Sie den falschen Mann.«
»Spricht dieser Poluschkin Englisch?« fragte Newman.
»Ja. Er ist taubstumm.«
»Taubstumm?«
»Unser Ausdruck für einen Mann, der vorgibt, nur Russisch zu sprechen, aber auch andere Sprachen fließend beherrscht. Auf diese Weise reden andere Leute manchmal offen in seiner Gegenwart. «
»Dort diese Fernsprechzelle. Können Sie ihn anrufen? Überreden Sie ihn, sofort herzukommen. Auf englisch? Sagen Sie ihm, es erfolge aus Gründen der Geheimhaltung.«
»Das könnte ich machen. Wie ich schon sagte, der Mann ist ein Psychopath. Ich mache mir wirklich nichts aus ihm.«
Newman ging hinter Poluschkin, der sich mit schweren, mühsamen Schritten bergauf bewegte. Der Russe schaute zweimal nach hinten, während sie den Windungen des Weges folgten, und jedesmal hielt Newman die Waffe auf ihn gerichtet.
Das Mondlicht warf in Abständen die Schatten der Kiefern über den Weg, und in der Ferne glitzerten die Hafenlichter wie die Sterne über ihnen. Es war still. Kein anderes Geräusch war zu hören als das ihrer Schritte. Höher und höher stiegen sie, hin zum höchsten Punkt, auf demselben Weg, den Newman schon zweimal gegangen war. Das zweite Mal des Nachts, als er auf die Abfahrt nach Tallinn am folgenden Tag wartete.
Zehn Minuten später kehrte Newman auf dem bergab führenden Pfad allein zurück. Er spürte kaum die Kälte der Nacht. Er folgte dem Pfad hinunter zu der Stelle, wo er Karlow hatte gehen lassen.
Als er die Uferstraße erreichte, schaute er vorsichtig nach beiden Richtungen, ehe er die Fahrbahn überquerte.
Er warf den Revolver in weitem Bogen ins Hafenbecken, und er verschwand. Er war immer noch voll geladen. Kein Schuß war abgefeuert worden. »In Finnland schießt man nicht die Leute über den Haufen …«
Newman ging den ganzen Weg zurück bis zu der Stelle, wo er seinen Wagen verlassen hatte und in Karlows Fahrzeug umgestiegen war. Er ließ sich hinters Lenkrad fallen, drehte den Zündschlüssel und fuhr zum
Marski
zurück. Er war total erschöpft.
Am nächsten Morgen wollte er die Maschine nach Paris über Brüssel nehmen. Er schuldete es Marina, Alexis’ Schwester, sie über das Geschehene zu informieren. Ungewißheit konnte jeden, ob Mann oder Frau, verrückt machen. Und er hatte Marina immer gemocht. Vielleicht hatte er die falsche Frau geheiratet.
Nach Paris würde er auf Wanderschaft gehen – alle Plätze dieser Welt aufsuchen, die er immer hatte sehen wollen. Zumindest das Geld für ein solches Unternehmen hatte er – sein Buch
»Kruger: Der Computer, der irrte«
hatte ihm ein Vermögen eingebracht. O Gott, wie müde war er doch.
Die Szene im Quellen-Park würde ihn immer verfolgen. Er hatte Poluschkin bis zum höchsten Punkt des Hügels vor sich hergehen lassen, einem kleinen Felsplateau, zwanzig Meter über einem darunter vorbeiführenden Pfad. Vom Plateau fiel der Fels steil wie eine Wand ab.
Sie standen da, Poluschkin mit dem Rücken zum Abgrund, Newman mit der Waffe in der Hand vor ihm. Wieder protestierte der Russe, aufgebracht und mürrisch, mit einer Spur von Angst.
»Was, verdammt, soll das alles? Ich habe Ihnen nichts getan …«
»Nur meine Frau ermordet – Alexis Bouvet.«
»Wovon reden Sie?«
Newman zog eine der Fotografien heraus, die Karlow ihm gegeben hatte. Es war mondhell auf der Klippe. Immer noch die Waffe auf ihn richtend, machte Newman zwei Schritte auf Poluschkin zu, so daß dieser das Bild deutlich sehen konnte. Der Russe schnappte nach Luft, tat einen Schritt rückwärts – über den Felsrand hinaus.
Er warf beide Arme hoch und fiel ins Bodenlose. Er schrie. Es war ein schrecklicher Laut. Er schlug zwanzig Meter tiefer auf, und der Schrei endete abrupt. Newman hätte schwören können, den Aufprall des Körpers auf dem Pfad gehört zu haben.
Er blickte in den Abgrund hinunter. Poluschkin war als undeutlicher, formloser Schatten zu sehen. Newman wandte sich ab und begann den langen Abstieg.
43
»Stilmar ist nach wie vor in der Amerikanischen Botschaft«, berichtete Karma dem hinter seinem Schreibtisch sitzenden Mauno. »Aber da hat sich möglicherweise etwas getan. Vor einer halben Stunde hat
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