Der Überläufer: Tweed 3
rechten Hand in die Jackentasche, wobei der Daumen herausragte und nach vorn gerichtet war. Es war eine seiner charakteristischen Posen. Ein zweites Mal hatte Tweed ihn überrascht. Er bediente sich kaum je solch dramatischer Phrasen. Tweed stand noch immer mit verschränkten Armen da und wartete. Genau diesen Augenblick wählte Monica, eine Frau von angenehmem Äußeren, mit dunkelbraunen Haaren und lebhaften Augen, um durch die Tür hereinzuschlüpfen. Sie blieb stehen, bis Tweed ihr durch ein Nicken zu verstehen gab, es sei in Ordnung, woraufhin sie unauffällig hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Gerüchten, die nach und nach aus Europa hereinkommen«, erklärte Tweed, »ist zu entnehmen, daß der amerikanische Staatsbürger Adam Procane möglicherweise auf dem Weg über Skandinavien überlaufen wird …«
»Und wer zum Teufel ist dieser Procane?«
»Ich habe keine Ahnung. Die Gerüchte sprechen von einer hochrangigen Person im amerikanischen Sicherheitsbereich, die im Begriff ist, zu den Russen überzulaufen. Sie können sich vorstellen, welche Folgen es in den Staaten hätte, wenn da einer in Moskau ankäme, der ein größeres Tier ist als seinerzeit Kim Philby – um so mehr, als Reagan am 7. November zur Wiederwahl antritt.«
»O mein Gott!« Howard ließ sich in den einzigen ledernen Armsessel sinken, der im Raum stand. Tweed bot ihn gewöhnlich Besuchern an, die sich darin wohlfühlen und dabei alle Vorsicht fallenlassen sollten. »Ich dachte mir, daß es um so etwas geht, aber ich wußte nicht, daß es sich um einen so großen Fisch handelt.«
»Groß wie ein Hai.«
Das war schon wieder nicht Tweeds normale Ausdrucksweise.
Monica war überrascht und hob den Blick, um Tweed prüfend anzusehen. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, und sie nahm an, er hoffte, Howard würde bald den Raum verlassen.
»Und warum Skandinavien«, fragte Howard schließlich.
»Es ist der einfachste Weg nach Rußland. Procane wird kaum beim Checkpoint Charlie in Berlin auftauchen. Und jetzt möchte ich wissen, warum Sie Newman den Film gezeigt haben.«
»Nachdem er ihn gesehen hatte, habe ich so nebenbei den Namen Procane fallen lassen …«
Tweed kniff die Augen zusammen. »Sie schicken ihn ins Feuer, weil Sie hoffen, daß er, mit seiner riesigen Erfahrung als Auslandskorrespondent, Sie zu Procane führen wird. Das war’s doch, oder?«
»Eine Feder, die wir uns an den Hut stecken könnten …« Howard machte eine resignierende Geste. »… falls wir den Amerikanern helfen, ihre Haut zu retten. Ein bißchen Ansehen und Glaubwürdigkeit in Washington könnte uns nicht schaden.«
»Und wie wollten Sie das bewerkstelligen – wenn wir jetzt einmal den gefühlsrohen Aspekt dessen, was Sie soeben getan haben, beiseite lassen?«
»Leadbury folgte ihm, als er das Gebäude verließ …«
»Leadbury!« Tweed gab sich keine Mühe, seine Verachtung und seinen Abscheu zu verbergen. »Und Sie glauben wirklich, Newman wird ihn nicht spätestens nach einer Stunde entdecken?
Wahrscheinlich hat er ihn bereits entdeckt.« Beide Hände weit voneinander entfernt auf die Schreibtischplatte legend, beugte er sich zu Howard vor. »Sie wissen, was Sie gemacht haben? Sie haben das falsche Ding am falschen Ort plaziert. Er wird nur ein einziges Ziel haben: den Mörder seiner Frau zu finden …«
»Sie kamen gar nicht gut aus miteinander«, warf Howard ein.
»Alexis war Auslandskorrespondentin für ›Le Monde‹. Sie und Newman gerieten sich dauernd in die Haare, weil sie denselben Beruf hatten. Ihre Ehe trieb schon nach einem halben Jahr dem Untergang zu.«
»Und Sie denken, das macht für Newman,einen Unterschied? Wir haben es mit einem wildgewordenen Einzelgänger zu tun. Von jetzt an, Howard«, Tweed tippte mit dem Finger auf das Schreiben der Premierministerin, »gehe ich allein vor. Dieses Dokument will es nach seinem Wortlaut so. Ich glaube nicht, daß es für uns noch etwas zu besprechen gibt.«
Eine halbe Stunde später erhielt Tweed den ersten Bericht über den Vorfall im Chasemore House.
Als Newman den vor dem Hauseingang geparkten Polizeiwagen sah, überquerte er nicht sogleich die Beresforde Road. Statt dessen schlenderte er durch die Grünanlage rund um St. Mark’s Church.
Er blieb vor der Kirche stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und hörte den dringlichen Heulton eines weiteren Wagens. Eine Ambulanz näherte sich auf der Fulham Road und blieb neben dem Polizeiwagen stehen. Zwei Krankenpfleger stiegen aus,
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