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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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ihrer bemächtigte.
    Nachdem Professor Jangor seine Diagnose gestellt hatte, meldetest du dich erst einmal nicht mehr bei ihm. Ich weiß nicht, wie du die Tage verbracht hast, der Webstuhl jedenfalls blieb verwaist. Jetzt, als ich darauf achtete, nahm ich wahr, wie langsam du dich bewegtest, wie du immer wieder innehieltest. Ich sah das Zittern in deinen Armen und dass du manchmal willkürliche Bewegungen machtest, um ein Zucken in den Beinen zu überspielen.
    Erinnerst du dich an den Kometen? Wenn du abends ins Bett gingst, hast du das Licht im Schlafzimmer nicht angeschaltet, du machtest die Fenster weit auf, strecktest dich auf dem Bett aus und hast den Himmel beobachtet. Einmal, die Grillen zirpten lauter als üblich, nahmen wir in der Gegend des Abendsterns eine kleine weißliche Wolke wahr, die sich bewegte. Wir haben tatsächlich einen Kometen gesehen, der die Erde aufsuchte! Man liest oft, in der Erdatmosphäre verglühende Kometen ziehen einen Nebelschweif hinter sich her, das stimmt nicht. Man sieht überhaupt nur den Nebel. Eine winzige Nebelbank bewegt sich so, wie es Nebelbänke nie könnten, nämlich sehr schnell. Den Kometen selbst ahnt man nur: Dort, wo die Wolke spitz ist, leuchtet sie. Plötzlich war sie weg, der lichte Punkt reiste weiter, als Zentrum eines erhellten Kreises, umgeben von Dunkelheit. Der Komet erlosch nicht langsam, sondern von einem Augenblick auf den anderen. Der Kreis, dessen Mitte er gebildet hatte, blieb noch eine ganze Zeit sichtbar.
    Du hast mich gebeten, das Fenster zu schließen, wir sollten jetzt schlafen. Als ich den Rollladen herunterlassen wollte, hast du stumm den Kopf geschüttelt, auch den Vorhang sollte ich nicht zuziehen. Ich schlafe schlecht, wenn es hell ist, ich wusste, ich würde mit der Morgenröte aufwachen, aber natürlich habe ich deinem Wunsch entsprochen. Am nächsten Morgen konnte ich dich dazu überreden, dass du zur Beobachtung und zur Behandlung ins Krankenhaus gingst.
    Als ich dich ins Krankenhaus brachte, fragte ich dich, ob du die Diagnose jemand anderem mitgeteilt hattest. Niemandem. Ich habe auch gefragt, ob du wolltest, dass ich jemandem Bescheid sagte. Du hast nur stumm den Kopf geschüttelt –
    In der Abteilung, in der du lagst, standen überall mobile elektronische Diagnosegeräte herum. Alle waren ständig eingeschaltet, auch wenn sie gar nicht benutzt wurden, die Bildschirme zeigten Testbilder, die LEDs flackerten. Maren, natürlich ist es nicht das Übliche, dass der Ehemann im Krankenzimmer der Ehefrau eine Kamera und ein Mikrophon installiert. Bitte glaube mir: Ich habe es nicht gemacht, um dich zu beaufsichtigen. Ich wollte bei dir sein, ich wollte, dass du nicht allein bist.
    Ich weiß, wie es ist, wenn man allein ist. In der Schule quälten mich zwei Jungen unablässig. Sie leerten den Inhalt meines Ranzens auf dem Gang aus und warfen meine Windjacke in den Schmutz. Sie sagten, ich sei schwul – ich habe nichts gegen Schwule, aber ich bin nicht schwul. Vor den Mädchen zeigten sie auf mich und machten dabei obszöne Gesten. Einmal habe ich mich nach der Schule im Umkleideraum der Turnhalle versteckt, weil sie angedroht hatten, mich auf dem Nachhauseweg zu überfallen. Sie fanden mich, sie schlugen mich und zogen mich aus, meine Kleider nahmen sie mit. Ich zog die Hose und das Hemd eines Jungen an, dessen Klasse gerade Turnunterricht hatte. Am nächsten Tag legte ich die Hose und das Hemd zurück. Wenn ich daran dachte, dass du in der Klinik warst, hatte ich jedes Mal den dunklen Ankleideraum in der Schule vor Augen.
    Wir waren unüberbrückbar einsam, jeder an eine andere großartige Idee von Erschaffung geschmiedet. Wolltest du jemals einen Abstand zwischen dich und deine Hervorbringungen legen? Wollte ich meine Wesen anderen Händen überlassen? Wir wussten, dass wir nicht ohne unsere Schöpfungen sein konnten, du nicht ohne deine stillen, ich nicht ohne meine wimmelnden Leben.
    Woher kam es, dass uns die frappantesten Vorgänge so enttäuschten, woher die exzeptionellen Erwartungen? Hatte ich dir etwas Ungeheures ins Ohr geflüstert oder du mir?
    Wir wurden hinter unserer Vision hergeschleift, wir haben gar nicht gemerkt, wie zerschlissen wir waren. Wir mussten uns in unserer Substanz ändern. Ein Materialaustausch bedeutete die einzige Chance für das, was angeschmiedet war, für uns.
    Die Krankheit, die sich anschickte, deinen Körper zu verwüsten, der Verdacht gegen Peter und Sondra, der meinen Geist zerstrahlte – das

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