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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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über dem Boden verzweigte sich die Linde ungeheuer, die Äste berührten an allen Seiten die Fassaden. Starke Scheinwerfer strahlten die Linde an, der Vollmond beleuchtete schmale, unbewegte Wolkenstreifen. Wo hörten die in weißliches Licht getauchten Äste auf, wo begannen die Wolkenstreifen? Still stand ich am Fenster, ich wollte dich nicht aufwecken. Gehörte ich zu den Ästen des Baums oder zu den Wolken? Ich fühlte eine nie gekannte, neutrale Schwerelosigkeit.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich zwischen Himmel und Erde verbrachte. Vom Gefühl der Gewichtslosigkeit beklommen, verfolgte ich, wie in dem Gebäudeteil rechts von mir auf derselben Etage in einem Zimmer nach dem anderen das Licht ein- und ausgeschaltet wurde. Entweder hatte es ein Ereignis gegeben, das die Nachtschwester nicht zuordnen konnte, oder sie kontrollierte die Zimmer routinemäßig. Mir war so, als durchlebte ich binnen kurzer Zeit einen ganzen Tag – je nach ihrem Stand spiegelte sich die Sonne in einem anderen Fenster.
    Du warst schon längere Zeit wach. Als ich zu dir eilte, richtetest du dich behänd auf, du stütztest dich nicht einmal mit den Armen ab. Dein Mund war der schmale Mund eines Kindes, die Oberlippe hochgezogen, man sah nur die beiden oberen Schneidezähne, deine Stirn war groß und wurde immer größer. Du blicktest mich neugierig an – deine Neugier galt nicht mir, sondern dem Leben. Deine Kraft flutete, wogte durch das Zimmer!
    Du hast mir über das Gesicht gestrichen und erklärt, Professor Jangor habe neue Untersuchungen angeordnet.
    Ich habe nicht gefragt, welche, sondern nur deinen Arm festgehalten.
    Jäh war das Kind verschwunden. Deine Nase wurde spitz wie schon einmal, deine Ohren formlos, dein Mund breit, das Kinn trat zurück. Das Leben hatte nur einen Scheinsieg errungen. Der Tod wartete heirätig.
    Ich umarmte dich. Du klammertest dich an mich. Ich konnte dich nicht loslassen. Kraftlos wärst du zurückgefallen.
    Danach brachte ich es nicht fertig, in unser Haus zurückzukehren. Der Pförtner mit dem zwergwüchsigen Sohn hatte Dienst, ich fuhr schnell an die Schranke heran und bremste scharf. Er spurtete über die regennasse Fahrbahn, eine Kamera überwachte die Einfahrt, er hätte auch in seinem Container bleiben und die Schranke von dort aus öffnen können. Als ich anfuhr, salutierte er. Er wollte unbedingt verhindern, dass ich noch einmal den Container betrat.

    Am Tag darauf hattest du hohes Fieber. Die Schwestern setzten dir eine Art Turban auf, damit dir die schweißnassen Haare nicht ins Gesicht hingen. Deine Augen glänzten dunkel unter den geschwollenen Lidern, dein Gesicht war rosig und voll. Professor Jangor erklärte, du hättest dir eine Infektion zugezogen, deren Natur noch unklar sei. Nach seiner Meinung habe die Infektion nichts mit deiner Krankheit zu tun. Bis jetzt sei es nicht gelungen, das Fieber zu senken, allerdings seien wegen deiner Krankheit noch keine wirklich schweren Mittel eingesetzt worden. Er versicherte, dein Zustand sei nicht bedrohlich. Ich glaubte ihm nicht. Die Krankheit war das arglistige, übergeordnete Prinzip. Sie grimassierte und verhöhnte dich und mich. Du würdest nicht mehr angeschmiedet sein. Aber du solltest sehen, was du von diesem Materialaustausch, von dieser Transformation haben würdest.
    Um mich zu sammeln, ich hatte nur eine Stunde geschlafen, ging ich zum Fenster. Wenn ich nicht gewusst hätte, es ist unmöglich, einen alten Baum dieser Größe durch einen anderen gleich großen Baum zu ersetzen, ich hätte geschworen, das war ein anderer Baum. Bis zur Mitte des Stamms waren alle Äste entfernt, die oberen so gestutzt, dass die Baumkrone einem flachen Konus glich. Helle, regelmäßige Regenwolken verdeckten den Abendhimmel, sie umgaben ihn wie eine Aura.
    Kann man im Stehen einschlafen? Wenn ja, dann hast du mich aufgeweckt. Ich verlor das Gleichgewicht, strauchelte kurz, fing mich jedoch, ohne zu stürzen.
    Entschieden und unvertraulich sagtest du: »Ich möchte zu Hause sein, wenn –. Nicht im Krankenhaus.«

    Ich konnte die Quietschlaute des Filzstifts auf der Metalltafel nicht ertragen und hielt mir die Ohren zu. Peter bemühte sich bereits, mit weniger Geräusch zu schreiben, er wusste, dass ich manchmal alle Töne um ein Vielfaches lauter höre, er hätte den Filzstift zeitlupenhaft langsam führen müssen, um jeden Laut zu vermeiden.
    Die S-bots sollten eine flache, auf dem Boden liegende Metallplatte aufheben und transportieren. Zu diesem

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