Der Überlebende: Roman (German Edition)
versuchtest, einen Medikamentenschrank zu öffnen. Deine Arme und Beine zitterten, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen habe. Kein Arzt weit und breit, nur eine Krankenschwester, die einen Nervenzusammenbruch hatte – ihr fiel nichts anderes ein, als zu zählen: »Dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig …«
Ich stürzte in den großen Raum, in dem die Intensivpatienten überwacht wurden. Er war erfüllt von den Herzfrequenzen der Kranken und den Geräuschen mechanischer Pumpen, es gab keinen menschlichen Laut. Ich wollte rufen: »Ein Arzt! – Ein Arzt!« Aber ich hatte vergessen zu atmen, ich musste Luft holen und brachte keinen Ton heraus.
Als ich schließlich mit zwei sehr jungen Ärzten und zwei Pflegern in das Arztzimmer zurückhetzte, lagst du mit geschlossenen Augen bewegungslos auf der Seite, in der gleichen Haltung, in der du vor dem Medikamentenschrank auf dem Boden gekniet hattest, als ob du – umgekippt wärst. Die Patienten drückten sich in die Ecken des Raums, die Krankenschwester zählte weiter.
Der eine Arzt horchte dein Herz ab, der andere öffnete deine Augenlider, um deine Pupillen zu kontrollieren. Die beiden Ärzte warfen dich mehr oder weniger auf eine Bahre und schoben dich im Laufschritt durch den Saal, mir und den Pflegern blieb nichts anderes übrig, als hinterherzurennen.
Ein querliegendes Kabelbündel zwang die beiden Ärzte abzubremsen. Sie transportierten dich mit dem Kopf voran, dein Körper rutschte nach vorn, dein Kopf hing von der Bahre herunter, jetzt hattest du die Augen offen, aber das musste noch nicht heißen, dass du bei Bewusstsein warst. Die Ärzte brachten dich in einen kleinen Operationssaal, ich wollte mitgehen, aber die Pfleger drängten mich hinaus und knallten die Tür zu.
Während ich durch die Glasscheibe in der Tür zusah, wie der eine Arzt dir die Schalen des Defibrillators auf den Brustkorb drückte und der andere am Gerät die Ladung einstellte, wurde die hundertmillionste POWERWOLF W-8 2000 fertiggestellt.
Wir würden es fertigbringen, die Realität zu klonen, sie würde annihiliert und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden. Neben ihrer Doppelgängerin gibt es keinen Platz für sie.
Zur Wirklichkeit gehörte auch ich. Hatte ich es darauf angelegt, nicht mehr da zu sein und dennoch zu sehen? Um die Welt in ihrer ursprünglichen – Reinheit zu erleben? Ohne die Illusionen des Geistes und der Sinne? Die eigene Abwesenheit genießen und den Rausch der Körperlosigkeit auskosten – wer verschwunden ist und die Welt trotzdem noch sehen kann, der muss doch unsterblich sein?
Als der Strom in die Defibrillatorschalen floss, hast du dich mit solcher Kraft aufgebäumt, dass der Arzt nach hinten gestoßen wurde und mit den Schalen in der Hand zu Boden fiel. Du zucktest, als ob dir jemand unaufhörlich ein Messer in den Rücken stieß, deine Augen waren weit aufgerissen, du hast dir auf die Unterlippe gebissen, sie zerbissen, das Blut rann in Fäden dein Kinn hinunter.
Während sich der Arzt wieder aufrichtete, begann das Licht zu flackern, schließlich wurde es sogar ganz dunkel. Die Stromversorgung des Stadtteils war zusammengebrochen, es zog sich hin, bis die Notstromaggregate des Krankenhauses anliefen. Das hätte eigentlich unterbrechungsfrei geschehen müssen.
Ich öffnete die Tür und trat zu dir hin. Die Ärzte ließen mich gewähren.
Völlig ruhig lagst du auf der Bahre.
Du fragtest: »Wie bin ich hierhergekommen? – Was ist geschehen?«
Im Licht der Kontrollleuchten des batteriebetriebenen Defibrillators erklärte ich dir, was ich getan hatte und warum ich es getan hatte. Dass ich mir mit keiner Faser meines Wesens die Konsequenz vorgestellt hatte, die sich daraus ergab.
Mühelos richtetest du dich auf.
Ich fragte: »Ist alles in Ordnung?«
Du sagtest: »Natürlich.«
Ich beugte mich über dich und umarmte dich. Dein Kinn ruhte auf meiner Brust.
Du wolltest doch leben. – Du wolltest doch leben?
Als das Licht wieder anging, lagst du bewegungslos und mit geschlossenen Augen in meinen Armen. Der Arzt hatte die beiden Defibrillatorschalen in der Hand, ich legte dich sanft auf die Bahre, erneut drückte er die Schalen auf deinen Brustkorb.
Du schnelltest mit dem ganzen Körper hoch. Als habe dich jemand in die Luft geworfen. Über der Bahre drehtest du dich um
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