Der Überlebende: Roman (German Edition)
nachmittags nach Hause gefahren, ich wusste, du erledigtest etwas in der Stadt. Ich kam gerade aus dem Bad, wo ich die Medikamente vertauscht hatte, als es klingelte.
Mein erster Impuls war, nicht zu reagieren, aber dann ging ich doch an die Tür. Du konntest es nicht sein, du hattest ja den Schlüssel. Es war ein Kurier, der ein Paket mit Material für deine Gobelins brachte.
Ich musste länger an der Tür verweilen, denn das elektronische Gerät des Kuriers, auf dem ich den Empfang der Sendung quittieren sollte, funktionierte nicht. Während ich in der Tür stand, geschah nichts. Aber als ich sie schloss, fuhr ein Windstoß in das Haus, der alle Tücher erfasste und sie hochhob. Sie schwebten im Raum, kein einziges Möbel, kein einziger Gegenstand war mehr abgedeckt.
Gern würde ich sagen, das Totenvolk meiner Gefühle hat mich überwältigt, aber ich war ja nicht innerlich abgestorben. Ich habe mich selbst nicht unter dem untoten Geschwader erblickt.
Letzte Szene. Die Decke zwischen dem Untergeschoss und dem Erdgeschoss des Klinikgebäudes war komplett entfernt. Man durchquerte den Eingangsbereich über Planken, die auf Gerüsten montiert waren, es erinnerte an den Markusplatz in Venedig bei Hochwasser, nur waren die Gerüste viel höher.
Es war der Vortag der Feier. Du warst zu Hause zusammengebrochen, die Haushaltshilfe hatte dich gefunden, ein Krankenwagen hatte dich in die Klinik gebracht.
Ich rannte, dass die Planken bebten, aber ich musste abbremsen und warten, zwei Betten mit Patienten hatten sich verhakt, die Pfleger konnten die Betten nicht aneinander vorbeischieben.
Der alte Mann lag bewegungslos mit geschlossenen Augen, die alte Frau hatte sich aufgerichtet, beide waren an Infusionsflaschen angeschlossen, die über ihren Betten hin und her schwangen. Die Frau zeterte und beschimpfte die Pfleger, dazwischen stieß sie immer wieder Schmerzensschreie aus. Die untergehende Sonne tauchte die Wände der Eingangshalle, die beiden Betten, das Nachthemd der alten Frau und eine Nonne in weißem Habit mit langer weißer Haube, die geduldig wartete, um die Engstelle passieren zu können, in ein tiefes Rot.
Im Untergeschoss waren etwa ein Dutzend gerahmter Plakate im Schmutz der Baustelle auf dem Boden verstreut. Auf den Plakaten keine Bilder, nur Text, große, gut lesbare Buchstaben in hellen Farben vor schwarzem Hintergrund. Die Wörter waren mir fremd, ich hatte sie noch nie gelesen oder gehört. Alle Plakate zeigten denselben Text, ich verglich einige willkürlich ausgewählte Stellen und fand dort immer den gleichen Buchstaben, allerdings jedes Mal in einer anderen Farbe.
Als Student habe ich viel Zeit mit den Enzyklopädien in der Universitätsbibliothek verbracht. Auf den Buchrücken waren die Nummer des Bands und der Bereich des Alphabets angegeben, den der Band in Stichworten behandelte, die Lettern waren geprägt oder bildeten ein Basrelief. Ohne dass ich bewusst versucht hätte, es mir einzuprägen, konnte ich für die Encyclopedia Britannica aus dem Gedächtnis angeben, welcher Band welchen Abschnitt des Alphabets umfasste. Die meisten Dinge veränderten sich unausgesetzt und viel zu schnell, sie gaben mir keine Chance, mich auf ihre neuen Zustände und Erscheinungsformen vorzubereiten. Ich fühlte Beruhigung dabei, mich auf solche Dinge zu konzentrieren, die sich nicht wandelten, ich fand Trost darin, immer wieder das Gleiche zu tun.
Ich hatte erwartet, dich über Leitungen zum Austausch von Signalen und körperlichen Substanzen an ein bewegliches Heer von Apparaten angeschlossen zu finden, unbeweglich. Aber du kauertest im Arztzimmer der Intensivstation auf dem Boden, neben einem uralten Rollstuhl. Er musste vom Anfang des vorigen Jahrhunderts stammen, zwei große glänzende Messinggriffe forderten dazu heraus, das fragile, einstmals schwarzlackierte Eisengestell zu schieben. Ein System von Ledergurten war mit völlig zerschlissenem Leinen überzogen, jemand Schmächtigeres, der sich in den Rollstuhl hineingesetzt hätte, wäre durchgerutscht. Der Insasse konnte das Eisengestell nur bewegen, indem er die großen vorderen Räder an der Lauffläche anfasste. Was sollte das historische Stück in der modernen Klinik?
Um dich herum stand ein halbes Dutzend Patienten, alles Männer, nur der junge Glatzkopf war rasiert, die älteren Männer hatten Mehrtagebärte. Sie streckten die Hände nach dir aus, sie tippelten vor und zurück, sie wollten dir wohl helfen, aber sie wussten nicht, wie.
Du
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