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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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warum liest er dann so ’n Scheiß? Heimlich?«
    »Vielleicht macht das jeder junge Mann mal«, hörte ich mich faseln. »Ich meine, man hat vielleicht so seine Phasen …«, sagte ich so leichthin wie möglich. Mein mütterliches Lächeln erstarrte zur Grimasse.
    »Mama, wäre das denn SCHLIMM für dich?« Charlotte sah mich fragend an.
    »Nein«, sagte ich tonlos.
    Das wäre eine Katastrophe, dachte ich. Das wäre eine schier unaussprechliche Katastrophe.
    »Mama, ich würde das jetzt nicht überbewerten.« Charlotte spürte genau, dass eine Welt für mich zusammenbrach. Sie wusste nur nicht, warum.
    »Warum bist du dann so blass?« Charlotte schüttelte meinen Arm. »Das kommt in den besten Familien vor. Das ist doch voll normal!«
    »Ich weiß.«
    »Na, dann … Mama? Du zitterst ja! Kann ich was für dich tun?«
    »Nein.«
    »Mama, dann gehen wir jetzt erst mal hier raus.«
    »Ja.«
    »Die sollen ihren Scheiß alleine sauber machen.«
    »Ja.«
    »Mama? Bist du okay?«
    »Ja.«
    Charlotte fing an zu kichern. »He, Mama, stell dich doch nicht so an! Ich mag Schwule! Außerdem ist er doch gar nicht dein Sohn«, hörte ich Charlotte wie aus weiter Ferne zu mir sagen. »Du musst dich nicht schämen.«
    Wir gingen hinüber zu unserem Haus. Die kühle Luft traf mich wie eine Ohrfeige.
    »Das kann dich im Grunde gar nicht kratzen! Wir müssen nur schauen, dass Papa nicht genau so zusammenbricht wie du!«
    Oh, der wird zusammenbrechen!, dachte ich. Mir entfuhr ein trockenes Schluchzen.
    »Fang du nicht auch noch an zu heulen, du blöde Kuh«, herrschte Charlotte ihre Schwester an, die mit Fanny auf der Treppe saß. Die kleine Fanny war entweder die Tochter eines Schwulen oder die Tochter eines Lügners. Letzteres war deutlich schlimmer … und viel wahrscheinlicher. Mir wurde schwarz vor Augen.
    »Die Mama klappt mir hier zusammen! Pack mal mit an!«
    An die nächsten Minuten kann ich mich kaum noch erinnern. Ich weiß nur, dass ich irgendwann allein im Auto saß.
    Wiebke stand mit dem Rücken zu mir in ihrer Apotheke und hantierte mit irgendwelchen Fläschchen herum. Man sah nur ihren Hinterkopf mit dem grauen Haaransatz. Aber ich sah auch nicht besser aus. Meine Gesichtsfarbe war grün, mein Mund völlig ausgetrocknet, und meine Haare klebten mir am Kopf. Zur Erinnerung: Ich kam gerade vom Putzen. Und zur noch besseren Erinnerung: Für mich war gerade eine Welt zusammengebrochen. Meine Welt. Zum Glück waren keine Kunden im Raum.
    »Na, so eine Überraschung!«, sagte sie ohne jedes Lächeln im Gesicht.
    »Ich wollte gerade abschließen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und kletterte ihre kleine Stehleiter herunter. Es war zwei Minuten vor sechs.
    »Kann ich dich mal kurz sprechen?« Ich hörte meine Stimme wie aus weiter Ferne.
    »Ist was passiert?« Wiebke stellte ihre Fläschchen auf den Verkaufstresen und kam erschrocken auf mich zu. »Du kippst mir hier doch jetzt nicht um?«
    Sie packte meinen Arm. »Du bist doch noch nie zu mir in die Apotheke gekommen!« Sie lachte bitter.
    »Es ist wegen Nathan …«
    »Hat er was angestellt?« Wiebke vergrub ihre Hände in den Kitteltaschen. »Hier, setz dich«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf einen Stuhl in der Ecke.
    »Ich habe beim Saubermachen …« Meine Stimme versagte. Ich räusperte mich verzweifelt.
    »Brauchst du ein Glas Wasser?«
    »Nein, geht schon.« In dem Moment, in dem ich auf den Stuhl sank, überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Plötzlich glaubte ich, nie mehr von diesem Stuhl aufstehen zu können. Aber das wollte ich auch gar nicht. Ich wollte für den Rest meines Lebens hier hinter der Apothekentür auf einem Stuhl für Gehbehinderte sitzen bleiben. Mit Blick auf das Blutdruckmessgerät und die Stützstrümpfe.
    Wiebke brachte mir ein Glas Leitungswasser. »Hier. Trink erst mal.«
    Hastig schlürfte ich das Wasser. Meine Hände zitterten so, dass etwas davon auf ihren Kittel spritzte. Sie trat einen Schritt zurück.
    »Was ist mit Nathan?«
    »Das wollte ich dich fragen.« Langsam hob ich den Kopf und schaute verzweifelt in ihre kalten grauen Augen.
    »Du meinst, dass er schwul ist?«
    »Das wusstest du?«
    »Natürlich! Du etwa nicht?«
    Wiebke trat einen weiteren Schritt zurück, lehnte sich an ihren Tresen und verzog das Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln. »Hast du irgendein Problem damit?« Ihre Finger trommelten auf die Glasplatte.
    »Nein, also grundsätzlich überhaupt nicht …«
    »Also?«
    »Es ist nur so, dass ich …«

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