Der Überraschungsmann
kümmern?«
»Ich weiß nicht …«
»Mama, das ist doch nicht dein Ernst! Wir haben Schule!«
»Hör zu, Charlotte. Hör mir genau zu: Du bist fünfzehn, und Pauline ist elf. Ihr schafft das.«
In dem Moment hörte ich Emils Stimme im Hintergrund. »He, Leute, was gibt’s zu essen?«
»Nix! Die Mama ist abgehauen …«
»Allerliebste Stiefmama?« Emils gute Laune drang an mein Ohr, konnte mich jedoch nicht wirklich erreichen.
»Emil, ich brauche deine Hilfe«, sagte ich. »Mir geht es nicht gut. Ihr müsst ein paar Tage ohne mich auskommen.«
»Ähm … klar.« Ich hörte, wie Emil sich am Kopf kratzte. »Das kriegen wir hin. Ich bin vormittags zu Hause, die Mädels nachmittags, Papa abends. Mit Nathan würde ich eher nicht rechnen.«
»Nein.«
»Bist du irgendwie sauer?«
»Auf dich ganz bestimmt nicht.«
»Gut, dann ruf mich an, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«
»Emil?«
»Ja?«
»Du bist etwas ganz Besonderes.«
»Och. Die einen sagen so, die anderen so.«
Das war mein letzter Kontakt zur Außenwelt gewesen. Danach hatte ich das Handy ausgeschaltet und in die hinterste Ecke meiner Nachttischschublade gelegt.
Er hatte mir das angetan.
Er hatte mir das wirklich angetan.
Volker, den ich über alles liebte.
Und Lisa. Meine beste Freundin. Meine Schutzbefohlene. Meine entzückende kleine Nachbarin. Die ich vom ersten Tag an ins Herz geschlossen hatte. Der ich die Mutter ersetzen wollte. Der ich die Karriere geebnet hatte. Für die ich meine Interessen aufgegeben, meine Karriere an den Nagel gehängt hatte.
Diese Lügen. Diese permanenten Lügen.
Wann waren sie zusammen gewesen? Wo? In unserem Haus? In ihrem? War er ihr nachgereist? Natürlich. Die Entspannungsübungen, bei denen ich nicht stören durfte. Mir war einfach nur schlecht. Alles, was er mir über Nathan erzählt hatte, traf auf ihn selbst zu! ER hatte Lisa zufällig wiedergesehen, als sie in das Fertighaus zog! DESHALB war er die ganze Zeit so dagegen gewesen! Mir schwirrte der Kopf. Ein Puzzleteilchen nach dem anderen fügte sich zusammen, und ich bekam ein immer klareres Bild.
NATÜRLICH ! Wie ungehalten er anfangs auf Sven reagiert hatte. Mit DOKTOR Wieser hatte er sich vorgestellt! Um dem Rivalen zu zeigen, wer hier die älteren Rechte hat! Bis er begriff, dass Sven in Zukunft viel weg sein würde. Kapitän, ah so! Dann war die zufällige Nachbarschaft zu seinem kleinen Seitensprung Lisa vielleicht doch gar nicht so blöd?
Mein Magen krampfte sich immer mehr zusammen. Ich würde nie wieder etwas essen können. Meine Atmung ging flach. Mein ganzer Körper funktionierte nur noch auf Sparmodus. Wahrscheinlich befand ich mich in einer Art Winterstarre.
Wo mochte er sie kennengelernt haben? Gelegenheiten hatte Volker genug: Kongresse, Wanderausflüge, Skitouren, Patientinnen ohne Ende. Irgendwann hatte er sie halt vernascht. In der Hoffnung, sie nie wiederzusehen. Und dann wollte es das Schicksal, dass ihr Mann Sven unser Nachbargrundstück erbte! Dass sie nebenan einzogen! Ich stöhnte. Wie er mir immer wieder gesagt hatte: Lass es nicht so eng werden mit ihr. Jetzt wusste ich, dass es seine eigenen Ängste waren, die da aus ihm gesprochen hatten. Er wollte es nicht so eng werden lassen mit seiner kleinen Liebschaft! Und ich dumme Kuh freundete mich in meinem mütterlichen Kümmerwahn immer enger mit ihr an! Ich musste wieder daran denken, wie ich Volker mit glänzenden Augen erzählte, dass Lisa schwanger war. Ich schluckte einen Kloß von der Größe eines Tennisballes hinunter.
Nicht NATHAN hatte da im Hafen von Kopenhagen gestanden und einen Vaterschaftstest gefordert. Volker! Nicht Sven hatte Lisa betrogen, wie sie mir das die ganze Zeit weismachen wollten. Volker hatte MICH betrogen. Erst zufällig vielleicht, dann systematisch. Seit wann ging das so?
Als Lisa wusste, dass sie von ihrem einmaligen Seitensprung mit Volker schwanger war und nicht von ihrem Ehemann Sven, reagierte sie mit einer Kurzschlusshandlung. Sie wollte das Kind wegmachen. Sie rief nachts Volker an. Um ihn unter Druck zu setzen? Oder war sie wirklich so furchtbar verzweifelt? Wie sehr musste Sven gelitten haben! Da zog er frisch verliebt und glücklich in sein Fertighaus, und der Nachbar ist sein Nebenbuhler! Er ist sogar der Vater des Kindes, auf das er sich so freut! Ab wann wusste Sven von dieser Sache? Und ich hatte ihn auch noch beschimpft und aus dem Haus geworfen! Und Volker aufgefordert, von Sven Alimente zu fordern!
Ich musste die Augen
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