Der Überraschungsmann
schließen. Ich war auf sie hereingefallen! Ich selbst hatte Lisa getröstet wie eine Mutter, ihr gut zugeredet, das Kind zu behalten. Ich war sogar bei der Geburt dabei gewesen …
Mein Herz setzte wieder und wieder aus, als mich eine Erkenntnis nach der anderen überrollte. Ich hatte ihnen alle Wege geebnet. Sie hatten sich geliebt, während ich ihr Kind im Kinderwagen ausgefahren hatte! Sie waren zusammen verreist, während ich ihr Kind gehütet hatte! Der Kongress in Athen! Der Rheumasymposium in Tunesien! Die Wandertour mit Felix! Alles gelogen!
Wie Volker in dieses Konzert gerannt war und mich wie einen begossenen Pudel draußen stehen ließ!
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Das war alles meine Schuld. Ich hatte mir das selbst eingebrockt. Ich hatte ihnen nicht nur den kleinen Finger – ich hatte ihnen beide Hände gereicht. Ich Riesenidiotin! Warum? Warum hatte ich nichts bemerkt?
Wieder bohrte sich mir Wiebkes schadenfroher Blick ins Herz. Sie hatte es gewusst. Schon lange. Sie hatte es genossen, mich ahnungslosen Wurm am Haken zappeln zu sehen.
Aber wie sollte es nun weitergehen? Wie sollte es jetzt bloß weitergehen?
Törichte Hoffnungen keimten in mir auf: Ich könnte so tun, als hätte ich es nie erfahren. Ich könnte das Spiel einfach weiterspielen. Weiterhin die Frau von Doktor Wieser sein. Stolz mit Kindern und Kuckuckskind durch die Stadt ziehen und im Café sitzen. Seht her, was für eine wunderbare Patchworkfamilie wir sind.
Nein, ausgeschlossen.
Aber was dann?
Ich musste darüber nachdenken. Ich konnte nicht nach Hause zurückkehren. Ich war noch nicht in der Lage, Volker zu begegnen. Ich war noch nicht mal so weit, ans Handy zu gehen und die Mailbox abhören zu können.
Doch was, wenn sie zu Hause nicht ohne mich zurechtkamen? Ich sah mein kleines Fannymädchen nach mir weinen, Charlotte und Paulinchen. Mir brach das Herz. Aber war mein Herz nicht schon in tausend Scherben zerbrochen?
Das kann eine Mutter doch nicht machen, ihre Kinder einfach so im Stich lassen, hörte ich Leonore schon zetern. Du kannst nicht einfach so abhauen, Barbara. Reiß dich zusammen! Wir Frauen haben uns nie so gehen lassen, wenn uns mal was gegen den Strich ging. Glaubst du, so ein gut aussehender Mann wie Volker begnügt sich auf Dauer mit so einer langweiligen Hausfrau wie dir? Lisa hat endlich Pfeffer in sein Leben gebracht! Sie ist jung, sie sprüht vor Energie, sie entführt ihn in die Welt der Musik, wo er hingehört! Übrigens hätte ich selbst sogar fast mal mit Rudolf Schock gesungen!
Doch ich reagierte nicht. Ich stand unter Schock. Ich reagierte auf gar nichts. Ich saß nur da. Am liebsten hätte ich mich lautlos in Luft aufgelöst, während die karstige, nassgraue Mondlandschaft draußen in Dunkelheit versank.
»Fasten Sie auch?«
»Wer? Ich?« Ich zeigte mit dem Finger auf mich und sah mich gleichzeitig suchend um.
»Ja, Sie! Ich sehe Sie nun schon seit einer Woche hier sitzen und wundere mich, warum ich Sie nie in der Fastengruppe treffe!«
»Ich … ähm … faste nicht.«
»Na, aber essen tun Sie auch nicht.«
»Nein.«
Die dunkelhaarige Frau im Bademantel hatte am Fenster gesessen und gelesen, bevor sie mich nach einem Saunagang angesprochen hatte. Wahrscheinlich war sie schon genauso lange hier wie ich, aber ich hatte sie einfach nicht bemerkt.
»Annette Sprengler«, sagte sie und streckte mir ihre noch feuchtwarme Hand entgegen.
»Wissen Sie, Sie machen mir langsam Sorgen.«
»Das tut mir leid«, antwortete ich verzagt und brach sofort in Tränen aus.
Oje. Das hatte ich schon befürchtet. Ich vergrub mein Gesicht im Bademantelärmel und schluchzte Rotz und Wasser hinein.
Annette Sprengler zog ihren Liegestuhl neben meinen. »So schlimm?«
»Sie wollen das nicht wirklich hören«, krächzte ich heiser. Dass ich überhaupt noch sprechen konnte!
»Doch. Ich habe Zeit. Das nächste Schlückchen Gemüsebrühe gibt es erst wieder in drei Stunden.«
»Ist Ihr Buch so langweilig?« Ich riskierte ein windschiefes Lächeln.
»Ausgelesen. Endlich.« Sie lächelte entschuldigend. »Total langweilig. Immer dasselbe. Da haben Sie bestimmt Interessanteres zu erzählen. Ich langweile mich hier schon seit Tagen!«
Und dann ging es auf einmal ganz schnell. Alles sprudelte und floss mitsamt den Tränen aus mir heraus, und ich redete mir von der Seele, was so lange in mir gegärt hatte. Wie lange wir in unseren Bademänteln dasaßen, weiß ich nicht. Annette Sprengler hörte mir
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