Der Überraschungsmann
»Da ich hier wohl die Ältere bin, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Ich bin Barbara.«
»Oh! Klar. Gute Idee! Lisa!« Sie strahlte, und wir schüttelten uns erfreut die Hand.
»Da, wo ich herkomme, sagen sowieso alle du!«
»Wo kommen Sie denn her?«
»Du.«
»Wie?«
»Du. Wo kommst DU her.« Lisa lachte verschmitzt und ließ mich ihre weißen, kleinen, perfekten Zähne sehen. »Aus einem Tal bei Innsbruck. ›Sie‹ sagen nur die Piefkes, die bei uns Urlaub machen. Über die machen wir uns heimlich lustig.«
Sie verfiel sofort in diesen entzückenden Tiroler Akzent, den ich schon am ersten Abend bei ihr wahrgenommen hatte.
»Dann haben sie sich bestimmt über deinen Liebsten lustig gemacht«, lachte ich.
»Über meinen Liebsten?« Lisa steckte ihre Hände in die Hosentaschen. »Das versteh ich nicht …«
»Na, der spricht ja nun WIRKLICH plattes Norddeutsch!«
»Ach, der!« Lisas Stimme klang ein klein wenig erstickt. »Also der … der war noch gar nicht so oft da.« Sie ignorierte meinen erstaunten Blick. »Also, was ist los, Mädels? Zeigt ihr eurer Mama die Saltos oder nicht?!«
Das ließen sich die Mädels nicht zweimal sagen, und Lisa und ich standen Schulter an Schulter da und sahen ihnen dabei zu.
»Super! Toll! Wie ein Profi!«
»Na, ein bisschen was habe ich den Trapezkünstlern auf dem Schiff abgeschaut«, erklärte Lisa. »Ich zeig euch gern noch andere Stunts.«
Ich sah sie von der Seite an. Nun war sie in unserem Leben. Sie würde nicht wieder abreisen wie eine Urlaubsbekannt- schaft. Sie würde jetzt hier wohnen. Sollte ich nicht lieber etwas mehr Abstand halten, sich die Dinge in Ruhe entwickeln lassen? Wie sagte Leonore immer mit spitz erhobenem Zeigefinger? » DU Rindvieh sagt sich viel leichter als SIE Rindvieh. Wenn man sich erst mal duzt, gibt es kein Zurück mehr.« Apropos Rindvieh!
»Bei euch riecht’s gut«, stellte Lisa fest, nachdem sie ihr Näschen in den Wind gehalten hatte.
»Oh! Ach du Schreck! Mein Kalbsbraten!« Ich raste los, über den Rasen und die Terrasse durch den Wintergarten und den großen offenen Essbereich in die Küche, wo die Knödel inzwischen eine innige Verbindung mit den Röstzwiebeln eingegangen waren. Es duftete wirklich verführerisch. Der Kalbsbraten schmorte zum Glück auf kleinster Stufe in seinem eigenen Saft vor sich hin – ein Blick in den Backofen genügte, um festzustellen, dass nichts angebrannt oder gar verkohlt war. »Ja, in aller Bescheidenheit«, murmelte ich selbstzufrieden vor mich hin, als ich mit der Schöpfkelle den Bratensaft über das Kälbchen träufelte: »Beim Kochen passiert mir so schnell kein Missgeschick.« Das war nun WIRKLICH ein Werbespot, oder? Ich meine, das war doch nicht ICH , die hier Selbstgespräche über dem Schmorbraten hielt? Hallo?
»Alles in Ordnung?«
Ich fuhr erschrocken herum und stieß mir fast den Kopf an der Dunstabzugshaube.
Lisa lehnte barfuß im Türrahmen. »Ich dachte, ich kann vielleicht was helfen …«
»Ähm, nein! Ich meine …, Sie können natürlich gerne mitessen, ähm, du, also ihr!«
»Nein, das können wir doch nicht machen!« Lisa verschränkte die Arme vor der Brust und stellte ein zierliches Füßchen Größe 36 auf das andere. »Ich wollte hier wirklich nicht so reinplatzen.«
So wirklich verlegen wirkte sie allerdings nicht. Genau das mochte ich so an ihr. Sie war einfach ein frisches, ungekünsteltes Naturkind: Singen konnte sie, Saltos rückwärts, und sie war weder von Schüchternheit geschlagen noch von falscher Scham. Sie besaß genau das richtige Maß an Höflichkeit und unbekümmerter Spontaneität. Meine Augen glitten kurz hinüber zum Spiegel, und was ich darin sah, gefiel mir: ein wohlwollendes, herzliches, entspanntes Lächeln. Auf beiden Gesichtern.
Ich war mir ganz sicher, eine neue Freundin gefunden zu haben.
4
Meine Damen und Herren, Sie stehen jetzt vor Mozarts Geburtshaus! Am 27. Jänner 1756 hat hier in der Getreidegasse neun um acht Uhr abends der größte Sohn Salzburgs das Licht der Welt erblickt! Einen Tag später wurde er bereits im Dom auf den Namen Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart getauft!«
Ich musste schreien, um mir in der vollen Getreidegasse Gehör zu verschaffen. Es war ein Samstagvormittag im Frühsommer, das Wetter geradezu göttlich, und alle Welt drängte sich zwischen Grünmarkt, Getreidegasse, Domplatz und Altem Markt. Der Balkon des Café Tomaselli drohte jeden Moment abzubrechen, so viele Menschen saßen
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