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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Schlafzimmerfenster.
    »Soll ich mitgehen?«, rief ich leise hinter ihm her. Direkt neben mir im Kinderzimmer schliefen die Mädchen.
    »Ich ruf dich, wenn ich dich brauche. Mach dein Handy an!« Mit diesen Worten verschwand er im feuchten Gras und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Ich lehnte meine Schläfe an den Türrahmen und lauschte auf meinen pochenden Herzschlag. Lieber Gott, dachte ich. Lass nichts mit ihrem Baby sein. Lass alles gut sein. Als ich kurz darauf die Lichter im Wohnzimmer und das Außenlicht angehen sah, war ich noch beunruhigter. Ich hörte Stimmen. Er telefonierte. Dann sah ich einen Krankenwagen vorfahren, sah das Blaulicht unheimlich über der Hecke aufblinken. Um Gottes willen! Stimmen. Volker erklärte den Rettungsfahrern irgendwas. Die Haustür wurde zugezogen. Das Licht ging aus. So schnell und lautlos, wie er gekommen war, glitt der Krankenwagen auch schon wieder aus der Einfahrt. War Volker mitgefahren? Ich wartete. Mein Herz polterte.
    Da kam Volker auch schon wieder zurückgestapft. Er war kreideweiß im Gesicht.
    »Volker! Was ist passiert?« Fröstelnd schob ich die Panoramatür zum Garten auf. Ich zitterte vor Angst und Kälte.
    »Ich habe sie mit Verdacht auf vorzeitige Wehen in die Klinik geschickt. Ich bin ja kein Gynäkologe.«
    »Vorzeitige Wehen?!«
    »Sie hat Blutungen. Damit sollte man nicht spaßen. Sie sollte einfach unter Beobachtung sein.«
    »Volker! Da fahre ich hin!« Schon riss ich meine Jacke vom Haken, schlang mir ein Tuch um die Schultern und bückte mich nach den erstbesten Schuhen, die ich finden konnte.
    Volker legte mir die Hand auf die Schultern: »Beruhige dich, mein Herz. Das ist nicht unsere Aufgabe.«
    »Aber wir können sie doch jetzt nicht so ganz allein …«
    In dem Moment erschien Paulinchen mit ihrem Teddy auf der Treppe. »Was ist passiert, Mami?«
    »Nichts, mein Schatz. Der Papa hatte einen Notfall. Alles bestens.«
    »Dein Platz ist hier«, sagte Volker und hob Pauline hoch, um sie mir in den Arm zu drücken. »Bring sie wieder ins Bett.«
    »Aber wir können sie doch nicht allein …«
    »Sie ist nicht allein.« Volker sprach mit mir wie mit einer debilen Dreijährigen. »Sie hat zwei ausgebildete Pfleger bei sich, die sie fachgerecht transportieren, und in der Klinik erwarten sie die entsprechenden Fachkräfte. Ich habe telefonisch bereits alles veranlasst. Sie wird jetzt eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik bleiben und wehenhemmende Mittel bekommen. Du kannst sie ja morgen im Lauf des Tages besuchen.« Mit diesen Worten stapfte er schon wieder die Treppe hinauf. »Ich habe morgen früh um sieben meinen ersten Patienten. Ich würde wirklich gern noch drei Stunden schlafen.«
    So früh hatte ich noch nie ein Krankenhaus betreten. Die Mädchen hatte ich einfach schon vor der noch geschlossenen Schule abgesetzt: Paulinchen vor ihrer Volksschule und Charlotte vor ihrem Gymnasium.
    »In euren Schultaschen sind Brote und Obst. Kakao ist in der Thermoskanne. Frühstückt ihr ausnahmsweise mal in der Schule, ja?«
    »Wen hast du denn lieber, die Lisa oder uns?«
    »Kinder! Wie könnt ihr denn so reden!«
    »Papa sagt, es ist nichts Schlimmes. WIR sind deine Kinder!«
    »Natürlich seid ihr das. Und jetzt steigt bitte aus, und macht mir hier keinen Stress!«
    So hatte ich meine beiden Töchter fast aus dem Auto geschubst. Ein schlechtes Gewissen saß mir während der ganzen Fahrt zum Krankenhaus im Genick. Stimmte es etwa, dass mir Lisa wichtiger geworden war als meine eigenen Töchter? Wie meine Mädels da frierend im Morgengrauen allein vor der Schule gestanden und mir ratlos nachgesehen hatten! Mir zog sich das Herz zusammen. Aber ich musste doch nach Lisa sehen! Wenn es ihre eigene Mutter schon nicht tat … Ich schluckte mehrmals. Mir war abwechselnd heiß und kalt, als ich suchend den Krankenhausflur hinunterschritt. Schwestern in quietschen den weißen Gesundheitslatschen schoben Frühstückswagen über die leeren, grauen Flure. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Kaffee. Hier waren auch meine Kinder zur Welt gekommen, und bei der Erinnerung an die Geburten wurde mir ganz warm ums Herz. Lieber Gott, lass bei Lisa alles gut gegangen sein!
    »Wo finde ich Lisa Ritter?«
    »Vierhundertzwei.« Die freundliche Schwester wies mir den Weg und musterte mich wohlwollend. »Sie sind sicher die Mutter?«
    Ich zuckte kurz zusammen, wollte mich aber um diese frühe Morgenstunde auf keine unerquickliche Diskussion einlassen. Und wer weiß?

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