Der Überraschungsmann
… Seemann.«
Wie angewurzelt stand ich da. »Wieso nennst du ihn Seemann? Er heißt Sven! Du kennst ihn doch!«
»Ja, schon. Aber er ist eben weit weg, und sie ist hin und her gerissen.«
Volker musterte mich so merkwürdig. Die beiden hatten an Svens letztem Abend noch zusammen in der Bar gesessen und ein Männergespräch geführt. Plötzlich ging mir ein Licht auf. »Ob er ihr treu ist?« Einen Augenblick lang starrten wir uns an. »Ich muss dir was sagen«, hob ich schließlich an. »Sie hat tatsächlich so ihre Zweifel daran geäußert, frühmorgens in der Küche, als sie so geweint hat.«
»Tja, und deshalb wusste ich nicht, ob ich dich da mit reinziehen soll. Das geht uns alles ja auch gar nichts an.«
»Und ob es das tut! Wer könnte ihr helfen?«, fragte ich eifrig. »Ein Psychologe oder so was?«
»Den habe ich schon bestellt. Er kommt, so schnell er kann.« Volker vergrub die Hände in seinen Kitteltaschen.
»Dann ist es ja gut.« Ich seufzte, halb erleichtert, halb besorgt. »Volker, ich weiß, dass du mir als Arzt keine Diagnose sagen darfst oder so, aber handelt es sich bei ihr um eine Art pränatale Depression!?« Ich meine, gab es so was überhaupt? Ich kannte nur postnatale Depressionen, und die hatten mich auch zuverlässig ereilt, als Schwiegermutter Leonore an meinem Wochenbett aufgetaucht war und mir erste Vorträge über das Stillen und die Kindererziehung gehalten hatte.
Volker lächelte nachsichtig. »So ähnlich. Ich weiß auch nicht, ob wir uns da einmischen sollen. Aber im Moment sieht es so aus, als würde sie wirklich so eine Art Mutterersatz brauchen. Sie fühlt sich einfach sehr einsam.« Er presste die Lippen zusammen und schaute nervös auf die Uhr. »Tja. Ich muss leider los.«
Ein Blick auf die Wanduhr im Wartebereich sagte mir, dass es genau acht Uhr war. Sein Wartezimmer war bereits voller Pati enten. Ich riss mich zusammen. »Gut, dass du es mir gesagt hast, Volker. Ich werde sie trösten.«
»Aber nicht wieder mitweinen!«
»Nein!«
Volker und ich tauschten einen innigen Blick. Wellen der Zuneigung überrollten mich.
»Bis später, ich muss dringend in die Praxis! Danke, dass du dich um unser Sorgenkind kümmerst. «
»Das ist doch Ehrensache.« Ich drückte ihm schnell einen kleinen Kuss auf die Wange. »Bis später, ich liebe dich!« Mit diesen Worten huschte ich in Lisas Zimmer.
Sie starrte mit offenen Augen an die Decke. Es roch … muffig. Nach getrocknetem Blut. Nach Schweiß. Nach einer schrecklichen, anstrengenden Nacht. Sie war so blass und sah so zerbrechlich, so klein und hilflos aus! Ihre sonst so kecke Nase wirkte so spitz. Was war nur mit der selbstbewussten, fröhlichen jungen Frau passiert, die bei uns auf dem Trampolin herumgesprungen war?
»Hallo«, flüsterte ich, zog mir einen Stuhl heran und nahm ihre eiskalte Hand. »Was machst du denn für Sachen?«
»Es ist alles in Ordnung«, kam es von Lisas ausgedörrten Lippen. »Dein Mann hat das Kind gerettet.« Sie klang verzweifelt.
Ich schluckte mehrmals und improvisierte schnell eine aufmunternde Bemerkung. »Dein Kind spielt dir ja schon früh Streiche.« Mein Lächeln geriet schiefer als beabsichtigt. Ich ließ mich vorsichtig auf die Bettkante sinken und strich Lisa über das feuchte Haar.
Plötzlich schlang Lisa die Arme um mich und weinte schon wieder ganz fürchterlich.
Ich wiegte sie, so gut ich konnte, in meinen Armen. Was muss te das arme Mädel durchgemacht haben! »He!«, versuchte ich es mit einem rauen Lachen. »Ist doch alles gut gegangen!«
»Ist es nicht! Nichts ist gut!«
Mich durchzuckte ein schrecklicher Gedanke. »Oder ist es nicht … normal?«
»Doch! Sie haben gleich einen Ultraschall gemacht, eine Frucht wasseranalyse und den ganzen Scheiß. Es ist ein Mädchen!«
»Aber das ist doch wunderbar!« Ich schüttelte sie leicht, sodass ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht fielen. »Das ist doch kein Scheiß!«
»Doch! Alles ist Scheiße!«
»Hallo! Du schenkst deinem Mann eine gesunde Tochter! Was gibt es denn da zu weinen!«
»Ich fühle mich so hundsmiserabel!«
Das waren wahrscheinlich noch die Nachwirkungen des nächtlichen Schocks. Bestimmt hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen. Ich versuchte sie zu verstehen. »Das brauchst du doch nicht, Liebes! Beruhige dich doch!«
»Ich mache euch so viel Stress! Ich bringe so viel Unruhe in euer heiles Familienleben!«
»Bis jetzt hast du immer nur Freude in unser Leben gebracht.«
»Ach, Barbara, ich habe dich gar
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