Der Überraschungsmann
nicht verdient!«
»Quatsch keinen Blödsinn!« Ich schüttelte sie leicht und wiegte sie dann in meinen Armen wie meine Töchter, wenn sie sich wehgetan hatten. »Du hattest einen kleinen Aussetzer. Volker hat mir alles erzählt.«
Sie zuckte zusammen, wurde in meinen Armen ganz steif.
»Was hat er dir erzählt?«, flüsterte sie erstickt an meiner Schulter.
Ich spürte ihre Tränen an meinem Hals. Oh. Das hätte ich vielleicht doch nicht sagen sollen. Das fiel unter die ärztliche Schweigepflicht. »Na, was du getan hast.« Ich presste sie an mich, damit sie mich nicht anschauen musste.
»Was ich getan habe …?«
»Dummerchen«, flüsterte ich in ihr Haar. »Ist doch wohl Ehrensache, dass wir uns um dich kümmern!«
Lisa schluchzte nun von Neuem los und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Ich hielt sie fest und summte leise vor mich hin.
»Ich bin so ein mieses Stück!«, presste sie erstickt hervor.
»Du hättest dabei draufgehen können. Mach so was nie wieder!«
»Ich bin so ein obermieses Stück!«
»Na ja, eine Heldentat war das nicht gerade. Aber pssst!, es ist ja vorbei …«
»Ich fühl mich so beschissen!«
»Ist ja gut, Liebes, ist ja gut.« Ich weiß nicht, wie lange ich sie so wiegte. Sie zitterte und schluchzte, ihre Zähne schlugen aufeinander wie bei Schüttelfrost.
Wie verzweifelt musste sie sein, wie einsam, dass sie zu so etwas in der Lage gewesen war! Ihre ganze muntere Fassade war in sich zusammengebrochen wie ein heiterer Frühlingstag unter einem schweren Gewitter. Ich tauchte einen Handtuchzipfel in kal tes Wasser und fuhr ihr damit über die Stirn. Sie war fiebrig heiß.
»Ich hab es echt nicht anders verdient, als hier zu verrecken …«
Oh, Gott. Bestimmt kam jetzt der nächste Depressionsschub. Hoffentlich kam dieser Psychologe bald. Endlich hörte dieser Schüttelfrost auf. Ich legte ihr meine Jacke über die Schultern, rieb ihr die eiskalten Füße. Was sollte ich auch sonst tun? Endlich versiegte die Tränenflut.
Lisa starrte aus dem Fenster, wo ein grauer, regnerischer Morgen heraufgezogen war. Draußen sah man einen Gärtner mit der Schubkarre einen Weg heraufstreben. Er blieb irgendwo stehen und begann, Pflanzen auszuladen und in die Erde zu setzen. Dabei pfiff er vor sich hin.
»Siehst du, das Leben geht weiter.«
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Lisa heulte schon wieder.
»Aber nicht mehr lange!«
»He! Beruhige dich doch! Komm her, wir ziehen dir ein frisches Nachthemd an. Du bist ja ganz durchgeschwitzt.«
Tatsächlich ließ sich Lisa willig von mir umziehen. Zum Glück lagen im Schrank mehrere frische Krankenhausnachthemden von der grün geblümten Sorte, die man im Nacken zubinden kann, und frische Handtücher fand ich auch.
»Du bist wie eine Mutter zu mir, und das habe ich nicht verdient!«
Lisa konnte ihren Tränenfluss gar nicht stoppen.
»Natürlich hast du das verdient. Was ist mit DEINER Mutter? Soll ich sie anrufen?«
»Nein. Sie würde nicht kommen.«
»Ihr hattet richtig Krach – oder?«
Sie nickte schweigend.
»Sie war gar nicht glücklich über deine Schwangerschaft?«
»Nein. Sie hat gleich gesagt, dass ich es wegmachen soll …«
Ich strich ihr sanft über das Haar. »Du bist glücklich verheiratet! Weshalb solltest du es wegmachen?«
Lisa weinte. Ihre Schultern zuckten.
Ich streichelte sie liebevoll. »Selbst in so einer Situation würde sie dir nicht beistehen?«
»Nein.«
Aus ihren kleinen, ungeschminkten Augen liefen Tränen, die rechts und links im Kopfkissen versickerten.
»Sie hält mich für den schlechtesten Menschen der Welt.«
»Aber …« Wie konnte eine Mutter ihre Tochter nur so im Stich lassen! Selbst wenn sie gegen die Verbindung mit dem viel älteren Sven war, musste sie doch zu ihr halten! Nur weil Sven ein Seemann war? Lisa hatte mir das alles schon erzählt. Ein Seemann war nicht gerade das, was man sich in dem engen Tal in Tirol für Lisa vorgestellt hatte. Er war viel älter als sie und könnte ihr Vater sein! Ihre Eltern hatten sich einen gleichaltrigen Bauernsohn für sie gewünscht und sie quasi verstoßen. Dieser Stachel hatte sich tief in Lisas Seele eingegraben. Und nun zweifelte auch sie noch an Svens Treue. Wie verzweifelt und überfordert musste die arme Lisa sein, dass sie sich so etwas angetan hatte! Ich konnte ihre kummervolle Miene fast nicht mehr ertragen.
»Liebe kleine Lisa! Wir haben dich alle ins Herz geschlossen! Dich und dein Kind! Mach dir keine Sorgen!«
Was sollte ich
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