Der übersehene Mann: Roman
strich über die Wange ihrer Tochter. »Und du hast das Puder viel zu dick aufgetragen. Irgendwo gibt es einen Mann. Ich kann ihn fast riechen.«
»Mutter«, begann Lydia mittlerweile sehr ungeduldig, »ich habe das Parfüm für mich aufgetragen, hörst du? Das Puder, die Schuhe – alles nur für mich.« Sie klopfte sich mehrmals gegen den Brustkorb, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Für mich! Nicht für Daphne, nicht für irgendeinen Mann oder irgendeine andere Frau. Nur für mich, verstehst du?«
Schweigen. Elizabeth war bereit einzusehen, dass Lydia ihr gut zurück gegeben hatte, aber trotzdem musste sie noch einen vergifteten Pfeil abschießen, als Lydia sich zum Gehen anschickte.
»Was du sagst, du siehst aus wie eine Dirne, und wenn dein Vater noch hier wäre, hätte er dir verboten, so vor die Tür zu gehen.«
»Bis in zwei Stunden. Ich lasse mir auch noch die Haare machen.«
Das rief Lydia schon über die Schulter, als sie auf dem kürzesten Weg zur Haustür schoss. Den Friseurtermin hatte sie sich ausgedacht;sie wusste, dass ihre Mutter protestieren würde, weil sie nicht früher über etwas so Wichtiges informiert worden war. Friseurtermine waren Elizabeths Domäne.
Und so sicher wie das Amen in der Kirche hörte sie noch den ersten Teil des Einwands ihrer Mutter.
»Du hast nie etwas von einem ...«
Aber Lydia war schon draußen; die Freiheit rief.
Der Parkplatz am Chestnut Inn Hotel war fast leer, als Lydia und Daphne einbogen. Sie zählten nur fünf Autos.
»Wie es aussieht, müssen wir uns mit keiner Hochzeit abfinden«, sagte Lydia, stellte den Motor ab und sah in den Rückspiegel. »Ein Segen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn hier Scharen von Leuten herum laufen würden.«
»Was für ein wunderbarer Ort«, sagte Daphne und sah an der weißen georgianischen Fassade hoch. »Bist du schon einmal hier gewesen? Gott, sieht ziemlich feudal aus. Dieser Frank scheint einen reichlich teuren Geschmack zu haben, das muss man ihm lassen.«
Aber Lydia hörte ihr kaum zu. Als sie über die gepflegten Rasenflächen und Hecken hinwegsah, überdachte sie ihr Vorhaben. Auf jeden Fall würde sich ihr das, was jetzt kam, für immer einprägen.
»Was?«, fragte sie geistesabwesend. Daphne war immer noch am Schwärmen. »Schon ziemlich großartig, findest du nicht?«
»Bist du nervös?« Daphne drückte den Arm ihrer Freundin. »Was für eine dumme Frage. Natürlich bist du nervös. Ich wärs auch.«
»Oh, mir geht’s gut, aber ...« Sie zögerte. »Was, wenn er sich als Ungeheuer rausstellt, Daphne?«
»Ach, wie kommst du denn darauf? Kann ich seinen Brief noch mal sehen?«
Lydia gab ihn Daphne wortlos hinüber. Sie war in Gedanken woanders. Sie starrte die schweren Zederntüren mit den eingelegten Glasscheiben an und versuchte sich darauf zu konzentrieren, was sie vorhatte. War sie denn verrückt geworden?
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas Unbesonnenes getan. Von früh auf hatte ihr Vater ihr Pflicht- und Verantwortungsgefühl eingeimpft. Jedes Vorhaben musste genauestens geplant, von allen Seiten abgeklopft und mit der größten Umsicht eingeschätzt werden. Auf diese Art und Weise kam fast immer das heraus, was man sich vorgestellt hatte. Und das Leben hielt keine unangenehmen Überraschungen für einen bereit. Enttäuschungen waren das Ergebnis nachlässigen Denkens und einer unvorsichtigen Haltung. Und Glück? Nach dem Dafürhalten ihres Vaters gab es so einen Zustand überhaupt nicht. Die Prüfungen des Lebens mussten mit Frömmigkeit und seelischer Kraft ertragen werden. Und die Belohnung war die Verheißung ewigen Lebens.
Lydia wehrte sich gegen die Vorstellung, dass Reverend Perseus Cuthbert gerade auf sie herniedersah – wenn gewiss wäre, dass er es tun könnte. Lebte er noch, würde er ihr höchstwahrscheinlich eine Predigt über die Schwächen des Fleisches und die Gefahren unüberlegter Abenteuer halten. Dann rief sie sich aber zur Vernunft: Er lebte doch nicht mehr. Er war tot – und sie war frei.
»Mir kommt er nicht wie ein Ungeheuer vor«, sagte Daphne und unterbrach ihre Gedanken. Sie faltete den Brief zusammen. »Er scheint doch ein sehr netter Gentleman zu sein.«
»Was?« Um ein Haar hätte Lydia ihrer Freundin das Wort ins Gesicht geschrien, denn einen Moment lang war sie so verwirrt, dass sie geglaubt hatte, Daphne spräche über ihren Vater. Doch die sah sie nur komisch an.
»Oh, Frank. Ja natürlich. Gut. Gehen wir rein?«
»Besser wärs. Je
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