Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
Vom Netzwerk:
Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«
    »So wahr mir Gott helfe.«
    »Ich würde mich nicht tot mit ihm erwischen lassen.«
    Sie brachen in hysterisches Gelächter aus. Als sie sich erholt hatten, machte Daphne einen Vorschlag.
    »Komm, wir verschwinden«, sagte sie. »Wir trinken einen Tee im Copper Kettle.«
    »Super Idee.«
    Sie wischten sich die Lachtränen ab und überprüften ihr Make-up im Spiegel. Daphne hielt Lydia die innere Tür auf.
    »Nach dir, meine Liebe.«
    »Danke dir, meine Vasallin.«
    Lydia öffnete die äußere Tür – und blieb wie angewurzelt stehen. Dort, unmittelbar vor der Toilette, stand ein kahler kleiner Mann mit einer gewaltigen Kamera über dem Zweireiher, die anklagend auf sie gerichtet war, auf dem karierten Axminster-Teppich. Frank Xavier McPrunty.
    Lydia erschrak. Daphne stolperte in sie hinein und hätte Lydia fast in ihn hineingeschubst.
    Er erhob einen knotigen Zeigefinger.
    »Sie sind nicht zufällig ...«
    »Himmel, nein!«, platzte Lydia heraus und wich zurück in die Damentoilette, Daphne an der Hand hinter sich herziehend. Die Tür schloss sich hinter ihnen.
    Sie schmissen sich gegen die Waschbecken. Daphne hatte einen Lachanfall, Lydia stand unter Schock.
    »Sch...«
    Sie schüttelte Daphne an der Schulter. Sie hörten, wie sich die äußere Tür öffnete.
    »Oh, mein Gott, er kommt! Schnell!«
    Sie rannten zu den Kabinen. Aber es war die Frau mit der Bienenkorb-Frisur – die eine Hälfte des trinkenden Paares, die sie vorher gesehen hatte –, inzwischen mit glänzenden Augen und einem unstetenBlick. Lydia bemerkte, dass sich mehrere Strähnen aus dem Bienenkorb gelöst hatten.
    »Iss eine von Ihnen Lyd-irgendwas-Day-vine, sind Sie das?«, fragte sie.
    Lydia starrte sie an. »Warum, wer will das wissen?«
    »Da draußen iss ’n Mann, der fragt nach Ihnen. Sagt, er heißt Xaver Mick-Brontee.« Sie deutete mit dem Daumen in Richtung Lobby und stolperte wie ein neugeborenes Kalb in die Kabine, wobei sie sich am Türpfosten festhalten musste.
    Lydia wollte etwas sagen, aber Daphne hielt den Zeigefinger vor die Lippen und blickte Richtung Kabine.
    »Warte«, sagte sie tonlos und tat, als müsse sie sich die Hände waschen. Ihre Freundin folgte ihrem Beispiel.
    Nach einem tiefen Seufzer und dem Rauschen der Klospülung kam Miss Bienenkorb heraus. Sie wackelte zur Tür und schien gar nicht wahrzunehmen, dass sie nicht alleine war.
    »Gott, hast du das gesehen? Sie hat sich noch nicht mal die Hände gewaschen.«
    »Hör mal, Lydia, es gibt nur einen Weg hier raus. Daphne ging zum Schiebefenster und begann es hochzudrücken.
    »Was, bist du verrückt geworden? Das kommt überhaupt nicht infrage!«
    »Tja entweder dies, das wäre Möglichkeit eins. Oder wir warten hier noch ewig ab und hoffen, dass er irgendwann geht. Das ist Möglichkeit zwei.« Lydia wollte protestieren, aber Daphne ignorierte sie. »Oder die dritte Möglichkeit.« Ihrer Stimme war das Gewicht des Fensterflügels anzuhören, aber ein paar Augenblicke später hatte sie ihn hochgeschoben. Stolz drehte sie sich um. »Gut, also los.«
    »Und die dritte Möglichkeit?«, fragte Lydia erwartungsvoll.
    »Ach so, die dritte ist die: Du gehst raus und stellst dich Mr McPrunty vor. Und dann wird er dir sehr ausführlich alles über sein Leben und seine gewaltige Kamera erklären.« Sie sah ihre Freundin herausfordernd an. Lydia machte einen Satz zum Fenster, um so viel Würde bemüht, wie unter den Umständen aufzubringen war, und kletterte hinaus.

16
    Die Herbstmonate waren für die kleinen Insassen des Waisenheims immer besonders grausam. Jeden Morgen um acht Uhr kam ein Bus in den Hof geklappert und die Jungen mussten sich anstellen und einsteigen. Sie setzten sich auf die nackten Eisensitze, die blassen, traurigen Gesichter unter den zu großen Kappen fast verborgen, die zerbrech lichen Körper in zerlumpten und schmuddeligen Sachen, die vor ihnen schon einige andere getragen hatten. Sie ruckelten hin und her, wurden aneinander gestoßen und setzten sich wortlos wieder gerade hin, als der Bus über das Kopfsteinpflaster durch die Außenbezirke der Stadt fuhr und den dampfenden Pferden und ihren klappernden Fuhrwerken auswich. Sie fuhren an verhüllten Frauen und müden Arbeitern vorbei, über denen hohe Fabrikschornsteine monströse gelbe Wolken in den Himmel bliesen.
    Niemand wollte auf die Felder gehen. Niemand wollte matschigen Gruben matschige Kartoffeln entreißen, nur um sie in Körbe zu werfen. Niemand

Weitere Kostenlose Bücher