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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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lernte man ein Rezept für Rosinenkekse auswendig, weil man eine Dame treffen wollte. Das war wirklich alles sehr merkwürdig.

18
    Das Ocean Spray, ein großes, dreistöckiges, frei stehendes Haus lag an der exponiertesten Stelle des Küstenortes Portaluce – in der Sonne dem Meer gegenüber und an der Hauptdurchgangsstraße.
    Gladys Millman, Elizabeth Devines jüngere Schwester, war eine fünfundsechzigjährige glamouröse Witwe und hielt ihre Pension wegen ihrer beneidenswerten Lage für die beste am Ort. Deswegen meinte sie auch, höhere Preise als ihre Rivalen verlangen zu können. Sie war stolz auf ihr tadelloses Haus, legte die höchsten Maßstäbe an ihre Angestellten und sich selbst und verachtete Menschen, die aus niederen Schichten stammten oder sogar Bauern waren.
    Kamen potenzielle Gäste in ihr Haus, die in ihren Augen eine Bedrohung ihrer Ideale darstellten – wenn jemand von einer Farm kam, Fabrikarbeiter oder Handelsreisender war oder weiblich, ungepflegt und mit über dreißig noch nicht verheiratet – dann verlangte sie noch höhere Preise, um sie abzuschrecken. Wenn die Strategie nicht den gewünschten Effekt gehabt hatte, knauserte sie mit dem Frühstück, um sich dafür zu entschädigen, dass sie solches Lumpenpack unter ihrem Dach ertragen musste. Dann bekamen der Farmer Murphy und seine Frau am Morgen Margarine statt Butter – was ihnen wahrscheinlich gar nicht auffiel –, dazu gekaufte Marmelade statt selbstgemachter und verdünnten Nektar statt frisch gepressten Orangensaft.
    Gladys hatte den Pensionsbetrieb zusammen mit ihrem Mann Freddie begonnen (Freddie war Buchhalter gewesen und sie Sekretärin), nachdemihre Töchter Bertha und Lillian ihre Examen abgelegt, geheiratet und sich in Kanada beziehungsweise in Kalifornien niedergelassen hatten.
    Innerhalb von zwei Jahren hatte das sorglose Paar das Ocean Spray erfolgreich als angesehenes Haus etabliert; der Erfolg war Freddies Auge für Profit und Gladys’ Kochkünsten zu verdanken. Aber die Idylle währte nicht lange. Eines Morgens starb Freddie am Frühstückstisch an einem Herzinfarkt. Er fiel mit dem Gesicht in seine Ulsterpfanne (eine Spezialität des Hauses), als er sich mit Gladys kabbelte, ob sie ausgebackenen Eier-Toast oder gebratenes Kartoffelbrot servieren sollten, wobei Freddie die billigere Kartoffelbrot-Alternative vorzog, die er persönlich auch viel lieber mochte, und die nun auch – in gewisser Weise – für seinen unglücklichen Tod verantwortlich war.
    Gladys war eine eitle Frau und stolz auf ihr Aussehen und ihren Status als Unternehmerin. Sie hatte einen Bewunderer, der sie von Zeit zu Zeit besuchte – »mein heimlicher Liebhaber« –, der sie in ihren Bemühungen, so gut wie möglich auszusehen, ermutigte und bestärkte.
    Sie zog sich elegant an, auch wenn sie etwas rundlich war, was sie mit guter Miederwäsche und einer hochmütigen Haltung wettzumachen versuchte. Sie hielt sich so gerade wie die regierende Monarchin. Und tatsächlich war Ihre Königliche Majestät, Königin Elizabeth, ihr Vorbild. Gladys glaubte an den Effekt einer gut platzierten Brosche und vielreihiger Perlenketten, die ihre Garderobe vervollkommneten und ihr den letzten Schliff gaben.
    Sie hatte Elizabeth länger als ein Jahr nicht mehr gesehen und war sich wohl bewusst, dass sie noch immer konkurrierten, was Kleidung und Auftreten anging. Elizabeth konnte mit ihren Meinungen außerordentlich direkt sein und Gladys wusste aus Erfahrung, dass die beste Art, sie zum Schweigen zu bringen – oder weniger Sticheleien hinnehmen zu müssen – die war, ihr wenig Gründe für Kritik zu liefern.
    Deswegen legte sie an diesem Morgen ihr Make-up sehr sorgfältig auf und entschied sich für die dezentere Nuance
zarte Dämmerung
statt ihrer sonst üblichen
goldener Sand
, trug auch nur wenig Kajal auf und verlieh ihren vollen, sinnlichen Lippen nur einen Hauch von Rosa. IhreSchwester würde sonst wieder sagen, dass Make-up nur etwas für die »Huren von Rom« sei, eine Meinung ihres verstorbenen Gatten, des Pfarrers Perseus Cuthbert, für den Gladys nur wenig erübrigen konnte, und dem sie nach seinem Tod noch mehr grollte als zu Lebzeiten. Ihre Schwester, Gott seis geklagt, fand es notwendig, seine nervtötenden chauvinistischen Mantras auch noch zu wiederholen.
    Nachdem sie mit dem Make-up fertig war, kämmte sie ihr kastanienbraunes Haar zu einem aufwendigen Chignon, den sie mit Nadeln feststeckte. Draußen kreisten Möwen am blauen Himmel über

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