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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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der Brandung des Atlantiks. Portaluce war ein wohltuender Ort, dessen ruhige Schönheit Herz und Auge zur Ruhe kommen ließen, selbst wenn man unter Druck stand.
    Doch Gladys fielen diese Vorzüge kaum auf, als sie ihr Hemdblusenkleid aus pistazienfarbener Seide zuknöpfte und in ihre Stöckelschuhe schlüpfte. Die Aussicht aus ihrem Mansardenfenster war genauso selbstverständlich geworden wie die elegante blasse Stofftapete, die sie höchstens von Zeit zu Zeit flüchtig bewunderte.
    Ihr letztes Accessoire waren diamantene Ohrstecker und eine passende Brosche, die sie an ihren großen Busen steckte – beides Geburtstagsgeschenke von Dr. Humphrey Brewster. Sie trat befriedigt vom Spiegel zurück. Jetzt war sie bereit für den Tag, ihr Personal und die bald zu erwartende zänkische Schwester.
    Die rund siebzig Kilometer lange Fahrt von Killoran nach Portaluce war langwierig, nicht zuletzt, weil Lydia mit dem Fiat 850 nicht schneller fahren wollte als sonst, nur weil sie eine gewisse Entfernung zurückzulegen hatten. Die Tachonadel kam kaum über sechzig Stundenkilometer hinaus. Ihre Vorsicht beim Autofahren, mehrere Unterbrechungen zum Teetrinken und die Tatsache, dass Elizabeths Hämorridenkissen aus irgendwelchen Gründen alle halbe Stunde wieder platt war und mit der Fahrradpumpe, die Lydia zu diesem Zweck im Kofferraum mit führte, aufgepumpt werden musste, führten dazu, dass die Damen nicht vor vier Uhr am Ocean Spray eintrafen.
    Gladys stand schon in der Tür, als Lydia auf den reservierten Parkplatz fuhr. Kaum sah Elizabeth ihre glamouröse Schwester dort stehen, fühlte sie sich zu dem ersten von vielen beißenden Kommentaren angeregt.
    »Hat sie denn nichts Besseres zu tun als da herumzustehen?«, sagte sie eisig, »und ihre Lungen in solch einem Kleid vorzuzeigen? Das ist doch viel zu eng für eine Frau ihres Alters. Wenn du mich fragst, hatte der arme Freddie Glück, dass er fortkonnte, und sie war darüber wahrscheinlich auch froh!«
    »Mutter, niemand fragt dich irgendetwas. Und ich warne dich: Wenn du anfängst, Tante Gladys zu verärgern, fahre ich gleich wieder nach Hause.«
    Elizabeth hatte keine Zeit zu antworten, denn Gladys war schon wie eine Möwe auf sie herabgestürzt und bemühte sich eifrig, ihrer Schwester aus dem Wagen zu helfen und ihr Luftküsse unter einem Hagel von Willkommensgrüßen zuzuwerfen.
    »Es ist so schön, dich wiederzusehen, liebe Gladys!« Elizabeth schlug ihre Hand weg. »Ich brauche keine Hilfe. Ich bin doch nicht invalide.«
    Gladys schnappte nach Luft und stürzte sich auf ihre Nichte.
    »Und die kleine Lily! Wie schön, dass du gekommen bist.« Sie zog Lydia mit klirrenden Armreifen ungestüm an sich in den berauschenden Duft ihres Parfüms Opium. »Gut siehst du aus«, log sie. »Vielleicht etwas zu dünn, aber wir päppeln dich schon auf. Und jetzt kommt hinein zur Teestunde. Ihr müsst nach der langen Reise ja fast verhungert sein.«
    Elizabeth umklammerte ihren Spazierstock und wackelte auf ihren Gesundheitsschuhen an Gladys Arm auf das Unternehmen ihrer Schwester zu: auf die im romantischen Zuckerbäckerstil erbaute Pension, die zugleich ihr Lebensunterhalt und ihr Heim war.
    »Ach, es ist hektisch wie immer, schließlich haben wir Hauptsaison, und da will ich mich nicht beschweren.«
    Gladys setzte sich auf das cremefarbene Damastsofa, eine Hand auf ihrer aparten Büste, die wohlgeformten Beine gekreuzt. Ihr war bewusst, dass es zwischen ihr und ihren beiden Gästen – der uneleganten undstreitsüchtigen Schwester und der schlichten, flachbrüstigen Nichte – gar keine Konkurrenz geben konnte. Sie spürte eine Welle des Triumphes und einen Stich Mitleid, als sie die beiden ansah.
    Außerdem wusste sie nur allzu gut, dass ihre Gäste im Nachteil waren, weil sie teure Zimmer in Anspruch nahmen, ohne dafür zu bezahlen. Also mussten sie wohl oder übel nach ihrer Pfeife tanzen und ihr meistens zustimmen. Gladys hielt gerne alle Fäden in der Hand und ließ sich weder von ihrer Schwester noch von ihren Freundinnen infrage stellen.
    »Aber ich kann mir den Luxus des Delegierens nicht erlauben«, fuhr sie fort, »denn ich kann niemandem trauen. Man bekommt ja heutzutage kaum noch Personal. Und wenn, muss man es erst anlernen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schlecht einige dieser jungen Frauen auf die häuslichen Anforderungen des Lebens vorbereitet sind. Der Himmel stehe den armen, nichtsahnenden jungen Männern bei, die sich mit so einer verheiratet

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