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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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kennengelernt?«
    »Tja, der Wahrheit alle Ehre, Mädel, aber ham Se nun gesagt, dass Se schon einen Buhb ham? Ham Se das gesagt?«
    »Nein. Ich habe keinen Mann.«
    »Na ja, Se ham ihn vielleicht noch nich kenngelernt, aber das heißt ja auch wiederrrum nich, dass er noch nich auf’er Bühne is. Wenn Se mich richtig verstehn, Mädel. Der spricht ganz bald mit Ihnen.«
    Lydia nickte verwirrt, aber es war wohl das Beste, in diesem Stadium keine Fragen zu stellen.
    »Sie sind ’ne Frau, die sich gern schön anzieht. Stimmt das wohl, Mädel?« Sie sah, wie Madame den Spitzeneinsatz ihrer Bluse betrachtete.
    »Ja, ich denke schon.«
    »Schöne Sachen gefall’n Ihnen, und es stört Se nich weiter, wenn Se dafür was ausgeben müssen. Stimmt das wohl, Mädel?«
    »Hm ...«
    »Ich sehe einen viel älteren Mann, der is nich mehr. Das is wohl Ihr Vater, Mädel?«
    Lydia sah Madame erschrocken an.
    »Der Wahrheit alle Ehre, und er war grrausam streng mit Se, Mädel? Stimmt doch, oder? Und ’n Mann der Kirche war er obendrrein. Und an einem dritten Tag von eim Monat, da isser gestorben.«
    Madame steckte sich wieder eine Zigarette an. Lydias Herz hämmerte. Die Hellseherin hatte die knallroten Augenlider niedergeschlagen und fuhr mit der Untersuchung der Handfläche fort.
    »Tja, dieser Bursche ist vielleicht ein bisschen roh, aber das Herz hat er auf dem rrichtigen Fleck, und ein gutes Herz is was Seltenes in dieser Welt. Er trinkt ganz gern ein, und lacht gern und rraucht, wie der Rest von uns, Mädel, und ihr beide kommt euch nah, ob Se das nun woll’n oder nich, denn ich kann ihn sehn, hier in der Hand, die Se mir hier zeigen, verrstehen Se mich.«
    Lydia rutschte hin und her. »Tja, ich seh ’ne alte Frau, älter als Sie, und sie ist Ihn’ ganz nah, und sie muss alles leichter nehm’n, denn sie sorgt sich unterbrochen, und unterbrochen sorgen is nich gut, wenn man so’n paar Jahre auf’m Puckel hat.
    Aber davon mal ab, gibt es nix, Mädel, worüber Se sich Sorgen machen müssen ... die Zukunft ist helle, wenn Se es denn so wünschen wollen. Verrstehn Se mich, Mädel? Und der Wahrheit alle Ehre, aber ich wünsch Ihnen so viel Glück und so viel Freude, wie Se verrdient ham, denn bis jetz wars nich so leicht, aber jetz wird’s leichter, denn das is, was ich in der Hand seh, die Se mir hier zeigen.
    Madame Calinda drückte Lydia fest die Hand.
    »Viel Glück, Mädel.«
    Lydia dankte ihr und ging hinaus. Sie hatte noch nie so eine Erfahrung gemacht und war völlig durcheinander. Die grell bemalte Bude hatte sie als eine Art Mutprobe betreten – eigentlich um etwas zum Lachen zu haben –, aber sie war verwirrt und staunend wieder herausgekommen. Wie konnte Madame Calinda das mit ihren Eltern wissen? Die Wahrsagerin hatte ihr einen Spiegel vorgehalten, in den sie eigentlich gar nicht hineinsehen wollte.
    Sie ging den Hügel wieder hoch, kam an dem Platz in der Sonne vorbei, den sie freigegeben hatte, aber sie wollte sich dort nicht wieder hinsetzen. Etwas war anders. Die Erfahrung mit der Wahrsagerin hatte ihre Wahrnehmung einschneidend verändert, und so gerne sie sie auch als Hochstaplerin abtun wollte, so wusste sie doch, dass ihre Worte sie auch wegen der Treffsicherheit ihrer Aussagen über ihren Vater noch lange verfolgen würden.
    Auf dem Rückweg beeilte sie sich, denn sie war sicherlich länger draußen geblieben als die eine Stunde, die sie ihrer Mutter auf dem Zettel angekündigt hatte. Die Sonne kam wieder heraus, aber die Luft war kühl. Sie zog die Strickjacke enger um sich, als sie den Felsvorsprung am Meer umrundete.
    Da war der merkwürdige Mann aus der Pension, er kam direkt auf sie zu. Die gelben Haremsschuhe waren einfach unverwechselbar. Er schienirgendetwas aus einer Tüte zu essen. Süßigkeiten vielleicht, und als er näher kam, sah sie, dass seine Augen gerötet waren, vielleicht vom Wind oder ... Lydia hatte den Eindruck, dass er geweint hatte und hatte großes Mitleid mit ihm. Sie lächelte ihn an und grüßte ihn.
    Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, aber er lächelte zurück.
    »Kalt, nicht wahr?«, brachte Lydia heraus, und erst dann sah sie die Narbe.
    »Ziemlich«, antwortete er, hielt seine Haare fest und stopfte die Tüte mit den Süßigkeiten in seine Tasche. Offensichtlich hatte sie ihn überrumpelt. Sie lächelte wieder, ging an ihm vorbei und spürte, dass er ihr hinterhersah.
    Trotz ihrer Eile beunruhigte sie die alte Narbe im Gesicht des Mannes. Am Abend musste sie

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